Roland Baines, aufgewachsen als Sohn eines englischen Offiziers in Libyen, wird als vierzehnjähriger Internatsschüler von seiner Klavierlehrerin geküsst, der Beginn einer exzessiven sexuellen Beziehung. In Schilderung dieser Amour fou scheint noch einmal McEwans Faszination für das Abgründige auf, das so charakteristisch für seine Frühwerke war. Jahre später dann wird Roland mitsamt kleinem Sohn von seiner Frau Alissa verlassen, die Autorin werden will. Beide Erfahrungen – oder Lektionen – sind für ihn prägend.
Die Schule bricht er ab, seine Klavierbegabung lässt er brachliegen. Immerhin verfügt er über ausreichend Selbstdisziplin, um sich mit strengem Lektüreplan einen soliden Grundstock an literarischer und philosophischer Bildung anzueignen. Nach ausgiebigen Reisen rund um die Welt versucht er sich als Dichter, später verfasst er Sinnsprüche für Grußkarten, betätigt sich als Tennislehrer und jobbt zum Ende hin als Barpianist in einem Hotel. Sein Leben ist rastlos, seine Legliebten sind zahlreich, er lässt sich treiben, ohne seine vielen Talente auszureizen. Erst mit sechzig stellen sich mit der Heirat mit Daphne, einer langjährigen Freundin, so etwas wie Ruhe und Glück ein.
Währenddessen zieht das Jahrhundert vorbei, angefangen von der Suezkrise über Margaret Thatcher, Tschernobyl und dem Fall der Mauer bis zur Corona-Epidemie und Trumps Feldzug gegen die Demokratie. Roland versucht sich auf alles einen Reim zu machen – und vollzieht dabei Irrtümer nach, die den meisten Lesern noch gut in Erinnerung sein dürften, man denke nur an das von Fukuyama vorschnell ausgerufene ‘Ende der Geschichte’ nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Historie ist innig mit Rolands eigener Familiengeschichte verwoben. Alissas Mutter ist nach Kriegsende nach Deutschland gereist, um einen Artikel über die Weiße Rose zu schreiben. Ihr unerfüllter literarischer Ehrgeiz wird für Alissa schließlich zum Antrieb, sich von Mann und Kind zu trennen und für ihre Ambitionen zu leben. Die in einem Tagebuch dokumentierte Recherche ihrer Mutter gehört neben Rolands Abschied von der krebskranken Daphne zu den intensivsten Passagen des Romans. Zwischendurch aber ist er über weite Strecken so schwer zu fassen wie etwa eine Mahlersinfonie für ungeübte Hörer: so viele Motive, Verweise, Anspielungen. Die 709 Seiten sind vollgestopft mit zahllosen Details: historischen, politischen, kulturellen, architektonischen, psychologischen, musikalischen und so weiter. Manchmal stellt sich trotz McEwans geschliffener Sprachkunst Überdruss ein, und man fragt sich unwillkürlich, ob Roland Baines diesen Aufwand rechtfertigt.
Doch gerade das Durchschnittliche dieses rastlos Suchenden und das Element des Beliebigen und Nichtgelungenen in seiner Biographie erweisen sich als Vehikel einer Bedeutungserhöhung zum Allgemeingültigen. Denn im Kern kreist der Roman um die Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht, um Schuld und Vergebung, um Irrtum, Verlust und das Glück, das der Zufall schenkt. Oder geht es vor allem ums Entscheiden, dann handeln!, wie Roland irgendwann vermutet? Am Ende jedenfalls steht tiefer Pessimismus. Alissa, inzwischen als bedeutendste Autorin Europas und Anwärterin auf den Nobelpreis gehandelt, gelangt zu folgender ernüchternder Einsicht: Meine Romane sind voll mit blöden, fordernden, widersprüchlichen Frauen, die sich aus dem Staub machen. … Aber blöde Männer kommen auch vor. Roland wiederum macht eine lange Liste der Probleme, die den Fortbestand der Menschheit über das Jahrhundert hinaus als eher unwahrscheinlich erscheinen lassen. Der Gedanke drängt sich auf, dass hier ein desillusionierter Autor sein persönliches Fazit zieht. Vielleicht liegt es in der Natur der Sache, dass mit dem Alter die Einsicht in die Vergeblichkeit allen Strebens einhergeht. Man könnte es mit einem chinesischen Sprichwort aber auch ein wenig trostvoller ausdrücken: Himmel und Erde bringen nichts Dauerhaftes hervor, wie viel weniger der Mensch.
Ian McEwan
Lektionen
aus dem Englischen von Bernhard Robben
Diogenes 2022