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Ian McEwan – Lektionen

Roland Baines, aufgewachsen als Sohn eines englischen Offiziers in Libyen, wird als vierzehnjähriger Internatsschüler von seiner Klavierlehrerin geküsst, der Beginn einer exzessiven sexuellen Beziehung. In Schilderung dieser Amour fou scheint noch einmal McEwans Faszination für das Abgründige auf, das so charakteristisch für seine Frühwerke war.  Jahre später dann wird Roland mitsamt kleinem Sohn von seiner Frau Alissa verlassen, die Autorin werden will. Beide Erfahrungen – oder Lektionen – sind für ihn prägend.

Die Schule bricht er ab, seine Klavierbegabung lässt er brachliegen.  Immerhin verfügt er über ausreichend Selbstdisziplin, um sich mit strengem Lektüreplan einen soliden Grundstock an literarischer und philosophischer Bildung anzueignen. Nach ausgiebigen Reisen rund um die Welt versucht er sich als Dichter, später verfasst er Sinnsprüche für Grußkarten, betätigt sich als Tennislehrer und jobbt zum Ende hin als Barpianist in einem Hotel. Sein Leben ist rastlos, seine Legliebten sind zahlreich, er lässt sich treiben, ohne seine vielen Talente auszureizen. Erst mit sechzig stellen sich mit der Heirat mit Daphne, einer langjährigen Freundin, so etwas wie Ruhe und Glück ein.

Währenddessen zieht das Jahrhundert vorbei, angefangen von der Suezkrise über Margaret Thatcher, Tschernobyl und dem Fall der Mauer bis zur Corona-Epidemie und Trumps Feldzug gegen die Demokratie. Roland versucht sich auf alles einen Reim zu machen – und vollzieht dabei Irrtümer nach, die den meisten Lesern noch gut in Erinnerung sein dürften, man denke nur an das von Fukuyama vorschnell ausgerufene ‘Ende der Geschichte’ nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Historie ist innig mit Rolands eigener Familiengeschichte verwoben. Alissas Mutter ist nach Kriegsende nach Deutschland gereist, um einen Artikel über die Weiße Rose zu schreiben. Ihr unerfüllter literarischer Ehrgeiz wird für Alissa schließlich zum Antrieb, sich von Mann und Kind zu trennen und für ihre Ambitionen zu leben. Die in einem Tagebuch dokumentierte Recherche ihrer Mutter gehört neben Rolands Abschied von der krebskranken Daphne zu den intensivsten Passagen des Romans. Zwischendurch aber ist er über weite Strecken so schwer zu fassen wie etwa eine Mahlersinfonie für ungeübte Hörer: so viele Motive, Verweise, Anspielungen. Die 709 Seiten sind vollgestopft mit zahllosen Details: historischen, politischen, kulturellen, architektonischen, psychologischen, musikalischen und so weiter. Manchmal stellt sich trotz McEwans geschliffener Sprachkunst Überdruss ein, und man fragt sich unwillkürlich, ob Roland Baines diesen Aufwand rechtfertigt.

Doch gerade das Durchschnittliche dieses rastlos Suchenden und das Element des Beliebigen und Nichtgelungenen in seiner Biographie erweisen sich als Vehikel einer Bedeutungserhöhung zum Allgemeingültigen. Denn im Kern kreist der Roman um die Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht, um Schuld und Vergebung, um Irrtum, Verlust und das Glück, das der Zufall schenkt. Oder geht es vor allem ums Entscheiden, dann handeln!, wie Roland irgendwann vermutet? Am Ende jedenfalls steht tiefer Pessimismus. Alissa, inzwischen als bedeutendste Autorin Europas und Anwärterin auf den Nobelpreis gehandelt, gelangt zu folgender ernüchternder Einsicht: Meine Romane sind voll mit blöden, fordernden, widersprüchlichen Frauen, die sich aus dem Staub machen. … Aber blöde Männer kommen auch vor. Roland wiederum macht eine lange Liste der Probleme,  die den Fortbestand der Menschheit über das Jahrhundert hinaus als eher unwahrscheinlich erscheinen lassen. Der Gedanke drängt sich auf, dass hier ein desillusionierter Autor sein persönliches Fazit zieht. Vielleicht liegt es in der Natur der Sache, dass mit dem Alter die Einsicht in die Vergeblichkeit allen Strebens einhergeht. Man könnte es mit einem chinesischen Sprichwort aber auch ein wenig trostvoller ausdrücken: Himmel und Erde bringen nichts Dauerhaftes hervor, wie viel weniger der Mensch.

Ian McEwan
Lektionen

aus dem Englischen von Bernhard Robben

Diogenes 2022

Ian McEwan bei Amazon

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis

Ich nehm’s gleich vorweg: Das glückliche Geheimnis ist das Wühlen. Geiger ist ein Wühler. Er wühlt, mit Unterbrechungen, in Wiener Altpapiercontainern und fördert Bücher, Postkarten,  Briefkonvolute und Tagebuchaufzeichnungen zu Tage. In seiner Studentenzeit verschafft ihm das Wühlen kostenlosen Lesestoff, der Flohmarktverkauf des Verwertbaren sichert ihm den Unterhalt. Später wird das Wühlen zur Gewohnheit, zum Sinn und Ordnung stiftenden Ritual. Die in den Briefen und Tagebüchern aufgehobenen Stimmen  werden gar zur Schule, zum Fundament seines Schreibens: ‘Die vielen Metamorphosen im Arbeitsprozess sind schwer nachzuzeichnen. Die Lumpen, die ich nach Hause brachte, mussten zerrissen und in Fasern aufgelöst werden, damit daraus neuer Stoff entstehen konnte. Mein Schreibtisch  war das Spinnrad, auf dem ich die Bruchstücke aus Fremdem und Eigenem zu neuen Fäden spann.’

In dem autobiographischen Text erzählt Geiger mit feiner Ironie von seinem Leben, seinem Schreiben, von Beziehungswirren und großer Liebe, seiner Sorge um  die Eltern, vom Sichverlieren und Sichfinden,  vom Glück des Wühlens und Sammelns. Dabei zielt er in die Höhe, der Text ist gedrechselt und poliert. ‘Ginge das, was ich schreibe, nur mich etwas an, bestünde der Fehler nicht in der Offenheit, sondern in meiner schriftstellerischen Unfähigkeit, dem Persönlichen grundsätzliche Bedeutung zu geben’.  Das Erlebte destilliert er zu Reflektion, gefasst in schöne, hochliterarische Sprache. Über weite Passagen wirkt das Buch essayistisch. Das ist gut zu lesen, zu Gedanken anregend, doch seiner Offenheit, die bis zur Selbstentblößung geht, nimmt er so auch die Schärfe und dem Schmerz den Stachel.

Wer in der Literatur Erschütterung und Betroffenheit sucht und Erfahrungen machen will, ist hier  fehl am Platz. Nur angedeutete Szenen, keine ausgemalten Charaktere, keine Anekdoten – es gibt so einiges, was Geigers Text nicht ist. Und ein wenig streng urteilt er am Ende über Kollegen, die nicht wie er in Altpapiercontainern gewühlt haben und mit dem Studium von alten Tagebüchern durch die Schule des Lebens gegangen sind, also über  Schriftsteller, die ihre Geschichten vielleicht  eher der Imagination, dem Träumen und dem spielerischen Fabulieren verdanken, wobei sie übersähen, dass die Menschen im wahren Leben so viel ‘unlogischer’ seien als die von ihnen erdachten.  Da wird es am Ende doch ein bisschen eng und schulmeisterlich. Trotzdem muss man seine Schlüsse nicht alle übernehmen oder sich für den Autor persönlich interessieren, um Das glückliche Geheimnis zu goutieren. Wer sich darauf einlässt, wird in diesem klugen, nachdenklichen Buch der Selbst- und Welterkenntnis fündig werden.

Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis

Hanser 2023

Arno Geiger bei Amazon

Kerstin Ekman – Am schwarzen Wasser

Warum bin ich erst jetzt auf diese großartige Autorin gestoßen? Es brauchte die bemerkenswerte Fernsehserie Blackwater (derzeit noch in der ARD-Mediathek zu sehen), und reich belohnt wurde ich mit einer Leseerfahrung, wie man sie nicht alle Tage macht.

Die Lektüre wurde in der heißesten Zeit des Jahres begonnen, und sogleich machte ich die merkwürdige Erfahrung, dass es um mich herum gefühlt mehrere Grade kühler wurde, denn der Roman versetzt einen mitten hinein in den schwedischen Winter, genauer gesagt nach Svartvattnet in Jämtland im Jahre  1916, in eine dörfliche Welt, in der es noch Hunger und bittere Armut gibt und das Leben ein Überlebenskampf ist. Im Wald heulen die Wölfe, Flüsse und Seen sind zugefroren. Die frischgebackene Hebamme Hillevi aber folgt dem Ruf ihres Herzens, denn ihr heimlicher  Verlobter soll demnächst die Nachfolge des dortigen Pfarrers antreten. Deshalb bewirbt sie sich als Gemeindehebamme und wird gleich zu Anfang arg auf die Probe gestellt. Eigentlich ist es nicht üblich, dass in dieser Gegend bei illegitimen Geburten eine Hebamme hinzugezogen wird, doch Hillevi, eine zupackende, energische junge Frau, hört von einem Mädchen, das seit vierten Tagen in den Wehen liegt, und macht sich auf den kilometerlangen Weg zu dem abgelegenen Gehöft – mit Schneeschuhen, da ein Fuhrwerk nicht verfügbar ist. Das Mädchen ist halb verhungert, die Geburt qualvoll und blutig, doch Hillevi holt das Kind mit der Zange. Wenig später wird es ertränkt, da es wegen der Beulen am Kopf als entstellt gilt. Was für ein Kontrast zwischen dem schonungslosen Realismus der Geburtsszene und der kalten, abstrakten Schönheit der Natur!

Hillevis Berufsanfang steht unter keinem guten Stern, denn als ihr Verlobter Edvard nachkommt, verleugnet er sie in der Öffentlichkeit, und auch als Liebhaber kann er nicht überzeugen: ‘Nachdem er unter dem Mieder ihres Kleides das Hemd mit der Spitzenkante freigelegt und sich zu einer Brust vorgetastet hatte, wimmerte er, als hätte er sich wehgetan. Es wurde auch an diesem Abend nichts.’  Der wortkarge Kutscher Trond ist zwar die zweite Wahl, erweist sich aber als einfühlsamer Liebhaber und zuverlässiger Lebensbegleiter. Mit ihrer Heirat beginnt eine weitverzweigte Familiensaga, die Ekman aus mehreren Perspektiven erzählt, und die in diesem ersten Band der Wolfspelz-Trilogie zeitlich bis zur Machtergreifung der Nazis in Deutschland reicht. Was als wortmächtige Naturbeschwörung beginnt, zerspringt nach einer Weile ein Spiegel und scheint sich aufzulösen in unterschiedliche Perspektiven. Dann sprechen Hillevis Kinder, oder man folgt dem Jungen Elis, der (siehe oben) das Neugeborene ertränkt, von seiner Familie flieht, als Waldmensch lebt, an Tuberkulose erkrankt, im Sanatorium Künstler wird und schließlich nach Berlin geht, doch immer findet sie zurück zum Zentrum des geradezu archaisch anmutenden Mikrokosmos der Jämtländer, wo man an Erdgeister und Zeichen glaubt, wo die überlieferten Geschichten Generationen überdauern und die Lappen wie eh und je mit ihren Rentierherden ziehen. Ekman schildert diese Welt mit ihren Mythen, Gebräuchen und Gerätschaften, ihrer Grausamkeit und Schönheit detailversessen und mit höchster Eindringlichkeit, als wäre sie dabei gewesen. 

Das reicht bis in die Sprache. Die Jämtländer  sprechen einen Dialekt, der auch für Hillevi manchmal schwer verständlich ist.  Da ich selbst als Übersetzer tätig bin, verzichte ich normalerweise darauf, Kollegen zu loben oder zu kritisieren, doch hier sei eine Ausnahme gemacht. Die Kunstsprache, welche die Übersetzerin Hedwig M. Binder erfunden hat, ist drastisch, nuancenreich, poetisch: ‘Das Fräulein sitzet im Gedacht.’ Nicht nur deshalb sei dieses wunderbare Buch zur Lektüre wärmstens empfohlen.

Am schwarzen Wasser: Roman : Ekman, Kerstin, Binder, Hedwig: Amazon.de:  Bücher

Kerstin Ekman
Am schwarzen Wasser

aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder

Piper Verlag 2000

Kerstin Ekman bei Amazon

In eigener Sache – Neuer Roman Black Box

Mein neunter Roman Black Box ist erschienen. Er basiert auf zwei Kurzgeschichten, die in der Zeitschrift Nova erschienen sind. Ich war fasziniert von den ‚Aktenkoffern‘, den mit menschlichem Bewusstsein ausgestatteten Explorationsbots, die ausgesandt wurden, um potenziell bewohnbare Planeten im interstellaren Raum zu erkunden. Irgendwann fragte ich mich, was wohl passieren würde, wenn eines dieser Bewusstseine irgendwann zur Erde zurückkehren würde – als leiblicher Mensch. Aus dieser Frage entstand der Roman, und darum geht es:
Um 2050 herum kulminieren die Umweltprobleme, Untergangsstimmung macht sich breit. Das Projekt Last Resort soll der Menschheit langfristig eine Zukunftsperspektive eröffnen. Dutzende interstellare Raumschiffe starten zu verschiedenen potenziell habitablen Planeten in relativer Black Box IlluErdnähe, ‚bemannt‘ mit Explorationsbots, den so genannten Aktenkoffern. Jeder Bot trägt die Bewusstseinssimulation einer realen Person in sich, die auf der Erde zurückgeblieben ist. Eines dieser Bewusstseine ist das von John Nowak, doch bei der Ankunft des Raumschiffs im Orbit des Zielsystems Imago kommt es zu einem unvorhergesehenen Vorkommnis.
Hundertdreißig Jahre später taucht im Erdorbit ein kleines Raumschiff auf, an Bord John Nowak, wie er leibte und lebte. Er wird zur Erde gebracht und in einem amerikanischen Militärkrankenhaus verhört. Wie sich herausstellt, enden seine Erinnerung mit dem Zwischenfall im Orbit des Zielplaneten. Wie seine menschliche Gestalt wiederhergestellt und die Bewusstseinssimulation des Aktenkoffers auf ihn übertragen wurde, kann er nicht sagen.
Ist er ein Schwindler, ein Monster oder ein Gott, wie manche seiner Bewunderer behaupten? John wird zum Spielball unterschiedlicher Interessen, bis es ihm gelingt, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen, und er beginnen kann, das Rätsel seiner Existenz zu lösen.

Black BoxNorbert Stöbe
Black Box

Roman, p.machinery, 2023

Leseprobe

Paperback
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Jonathan Franzen – Crossroads

Nehme ich mir das neue Buch eines von mir geschätzten Autors vor, mache ich, um die Spannung zu wahren, einen Bogen um Rezensionen und gönne dem Umschlagtext höchstens mal einen halben Blick. Beim Titel Crossroads dachte ich an den gleichnamigen Song der legendären Gruppe The Cream, und das sonnenwarme Cover mit dem Gitarrenspieler und der innig lauschenden jungen Frau evozierte Woodstock-Bilder. Folglich erwartete ich von dem 826-Seiten-Wälzer ein Epos über die Hippiegeneration. Damit lag ich daneben, aber vielleicht nicht ganz so weit, wie es zunächst den Anschein hatte.

Crossroads spielt 1971/72 im fiktiven New Prospect, einem Vorort von Chicago. Im Mittelpunkt steht die Pfarrersfamilie der Hildebrandts. Russ und Marion haben vier Kinder:  Clem, Becky, Perry und Judson. Mit Ausnahme  des noch jungen Judson stehen alle an einer Wegkreuzung ihres Lebens. Entscheidungen müssen getroffen werden, Pläne werden geschmiedet und zerplatzen, Lebenswege verändern sich. Russ, der erste Gemeindepfarrer, ist neidisch auf Rick, den jüngeren zweiten Pfarrer und Gründer der namensgebenden Jugendgruppe Crossroads. Der charismatische Rick kommt gut an bei den Jugendlichen. Der hemdsärmligere Rick fühlt sich ausgeschlossen und zurückgesetzt, und auch seine Ehe läuft nicht mehr rund. Er hat das sexuelle Interesse an der pummelig gewordenen Marion verloren, stattdessen reizt ihn das jüngere Gemeindemitglied Frances, die mit ihrer unkonventionellen Art ein alternatives Lebensmodell für ihn verkörpert. Clem, sein ältester Sohn, hadert unterdessen mit seiner Zurückstellung vom Wehrdienst. Die vermeintliche moralische Schuld gegenüber seinen in Vietnam dienenden Altersgenossen glaubt er dadurch begleichen zu müssen, dass er mit seiner Freundin Schluss macht, das Studium abbricht und sich freiwillig zur Musterung meldet. Becky, seine jüngere Schwester, verliebt sich in den Musiker Tanner und spannt ihn dessen Freundin und Bandkollegin aus, während Perry, ihr begabter, aber schwieriger Bruder, sich mit Drogen einlässt. Diesen fünf Hildebrandts folgt Franzen mit wechselnder Perspektive. Kein Umweg ist ihm zu lang und kein Detail zu nichtig, um ihre Dilemmata auszuleuchten und in kunstvoll eingewobenen Rückblenden ihre Lebensgeschichte zu inszenieren. Dass keine Langeweile aufkommt, verdankt sich einerseits dem unglaublich nuancenreichen psychologischen  Erzählstil Franzens, der bisweilen an hyperrealistische Gemälde denken lässt, bei denen man mit der Lupe quasi jedes längs- und querliegende Härchen einzeln studieren kann, andererseits  seiner Fähigkeit, die überbordende Detailfülle mit großen Bögen zusammenzuhalten.

Und dann ist da noch die Sache mit Gott. Es ist kein Zufall, dass die beiden Teile des Buches mit Advent und Ostern überschrieben sind. Schließlich geht es um eine Pfarrersfamilie, und da verwundert es nicht, dass auch Themen wie Religion und Glauben behandelt werden. Schubkastenreligiosität ist dabei weder Franzens noch Russ’ Sache. Russ ist schließlich froh, der engen Welt der Mennoniten entkommen zu sein, in die er hineingeboren wurde, und mit zu den stärksten Passagen des Buches gehört  seine in der Rückschau erzählte spirituelle Naturerfahrung in der Hochebene eines Navajo-Reservats. Doch die Häufung von Glaubenskrisen, Bekehrungen, Gotteserfahrungen bis zur Gottesidentifikation und nicht zuletzt der engelsgläubige Autofahrer, der zum Ende den nach Hause trampenden Clem mitnimmt (der einzige Agnostiker der Familie) befremden den eher religionsfernen Leser. Auch wenn der Roman mit einem Hauch Ernüchterung endet und die eine oder andere Bekehrung in Frömmelei zu münden scheint und damit quasi ‘entschärft’ wird, stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die Themen Religion und Glaube in der geplanten Trilogie einnehmen werden, die mit dem vorliegenden Roman eröffnet wird. Drei Generationen soll das Gesamtwerk umfassen, und es würde nicht überraschen, wenn sich herausstellen sollte, dass der erste Band bereits mit Blick auf das Erstarken der Evangelikalen konzipiert wurde, die in den USA eine unheilige Allianz mit dem reaktionären Populismus eingegangen sind.

Und was ist mit Woodstock? Ein schwaches Echo davon findet sich bei den Jugendlichen, die in der Crossroads-Gruppe tanzen, singen, meditieren und einander mit harmlosen Psychospielen näherkommen, und das ist eigentlich eine ganz sympathische Reminiszenz an das kurze drogenselige Hippie-Delirium.

Crossroads

Jonathan Franzen
Crossroads

Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell

Rowohlt 2021

Jonathan Franzen bei Amazon

Voosen/Danielsson – Der rote Raum

Der rote Raum ist der neunte Band der bislang zehn Bände umfassenden Krimi-Reihe um die schwedischen Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss. verfasst vom Autoren-Duo Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson. In einem teuren Wohnturm in Växjö wird ein Toter mit einer Kugel im Kopf gefunden. Sein Brustkorb wurde geöffnet, das Herz entnommen und stattdessen ein kleiner Mondmeteorit hineingelegt. Das Opfer, ein zurückgezogen lebender Informatiker, Überlebender des erweiterten Suizids seiner Eltern, war ein schwer traumatisierter Mann, der mit Echsen besser auszukommen schien als mit Menschen, weshalb sich weit und breit kein Tatverdächtiger mit plausiblem Motiv auffinden lässt. Dieser Fall gibt der ermittelnden Ingrid Nyström eine harte Nuss zu knacken. Zeitgleich erweist sich ein vermeintlicher Arbeitsunfall in Kiruna als Mord, und auch hier wurde ein Organ entnommen, diesmal die Leber. Beide  Fälle werden getrennt untersucht, letzterer von Stina Forss, die vor einem Locked-Room-Rätsel steht. Und dann gibt gibt es noch einen dritten Erzählstrang: Zwei Junge Männer reisen auf Vespa-Rollern von Schweden nach Griechenland, scheinbar ein harmloser Urlaub angehender Studenten. Wie das wohl zusammenhängt?

Alle drei Erzählstränge erscheinen angemessen disparat und machen Lust auf eine wendungsreiche Auflösung, aber die schleppt sich dahin. Die beiden Kommissarinnen bleiben merkwürdig blass, was insbesondere bei Nyström verwundert, trägt sie doch nicht nur Augenklappe, sondern auch ein schweres Paket Schuldgefühle, weil sie im vorigen Band den Mörder der Partnerin ihrer Schwiegertochter im Beisein ihrer Kollegen in Selbstjustiz erschossen hat. Den Kollegen hingegen kommt man schon näher, vielleicht weil es zwischen ihnen und der jungen Teamergänzung Sara Hjalmarsson so schön menschelt. Während die alten Männer sich zum Gockel machen, bringt Hjalmarsson, auf der Schule wegen ihrer Legasthenie und ihrer Oberweite Sexy Lexie genannt, den Fall des Echsen-Manns schließlich entscheidend weiter.

Es ist schon ein bisschen seltsam, dass die Nebenfiguren farbiger rüberkommen als die beiden Kommissarinnen. Vielleicht liegt es auch an der glanzlosen, aber wortreichen Sprache, dass sich die Lektüre über weite Strecken mächtig zieht. Dazu trägt auch der ausgeprägte Hang der Autoren zur Internetrecherche bei. Ob das Tunen von Vespas, schwedischer Hip-Hop, der rote Raum (hier ein Chatraum im Darknet, so viel sei verraten) in Malerei, Literatur, Populärkultur und so weiter, alles wird breitgetreten, als gelte es die Liste, die Google ausgespuckt hat, lückenlos abzuhaken. Da wäre weniger manchmal mehr gewesen.

Beginnt man eine unbekannte Krimi-Reihe, steht die Hoffnung im Raum, auf vielbändigen fesselnden Lesestoff zu stoßen. Diese Erwartung kann die Reihe um Nyström und Forss trotz des durchaus packenden Finales leider nicht erfüllen. Der rote Raum ist ein solider Krimi, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Der rote Raum / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.9 von Roman Voosen; Kerstin  Signe Danielsson als Taschenbuch - Portofrei bei bücher.de

Voosen/ Danielsson
Der rote Raum

Kiepenheuer & Witsch 2021

Voosen/Danielsson bei Amazon

Jennifer Egan – Candy Haus

Der Umschlag ist bunt, Candy Haus steht drauf, und wie ein Haus aus oder voller buntem Candy ist tatsächlich der Roman. Jedes Kapitel ist anders. Die klassische Kurzgeschichte kommt vor, die auktoriale und die Ich-Erzählung, innerer Monolog in Aphorismenform, E-Mail-Kommunikation, Abschweifung und Verdichtung, Verrätseltes und Erhellendes, Triviales und Raffiniertes, Berührendes und Forderndes, Vergangenheit (angefangen bei der Hippiezeit) über die Gegenwart bis zur Zukunft (2035).

An Anfang und Ende des Romans steht Bix Bouton, der Gründer und Erfinder von Mandala, einem Social-Media-Konzern, der nicht zufällig Ähnlichkeiten mit Zuckerburgs Meta und Facebook aufweist.  Reich, erfolgreich und glücklich verheiratet, befindet er sich mitten in einer Lebenskrise: Was soll jetzt noch kommen?  Die Erkenntnis überfällt ihn als Vision, als er sich an den Tod seines Jugendfreundes Rob erinnert: Hätte er den Ertrinkenden vielleicht retten können? Daraus wird ‘Besitze dein Unbewusstes’, das es den Nutzern erlaubt, eigene und fremde Erinnerungen nachzuerleben. Mandala ermöglicht es seinen Kunden, ihr Bewusstsein in einen kleinen Kubus hochzuladen und es online zu teilen, eine Fortschreibung der Social Media, wie wir sie kennen, und eine neue Form des Streamings. Die ‘Zählenden’, qualifizierte Autisten, ‘algebrasieren’ den Datenfundus und machen ihn nutzbar, Cyborg-Duplikate, so genannte Proxys, agieren als Stellvertreter ihrer Originale, die Renegaten verweigern sich der Vergesellschaftung des Persönlichen, und es wird Missbrauch betrieben mit ‘Asseln’, welche die Regierung ihren Soldaten und Agenten zum Zweck der Überwachung in den Kopf einpflanzt und die auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden, zu welchen Zwecken auch immer. Im Zentrum aber steht der gealterte Bennie Zalazar, Egan-Lesern bereits aus ihrem Roman Der grössere Teil der Welt bekannt, zu Beginn cleverer Profiteur der disruptiven Technik des Musikstreamings, jetzt Opfer einer neuen Form des Streamings. Um ihn gruppiert sich ein Mikrokosmos von Figuren, hart gegeneinander geschnittene Lebensgeschichten, kunstvoll verdichtet zu  Episoden, die häufig von einem Wendepunkt erzählen wie die Eingangsgeschichte von Bix und in denen sich das heutige medial verwobene Leben wie in den Zerrspiegeln  von Kirmesbuden spiegelt, mal grotesk verzerrt, mal auf den Kern reduziert, beziehungsweise auf den Punkt gebracht und immer, ungeachtet der Form, lebensprall. Dieser Roman setzt die Synapsen unter Strom. Irgendwie stelle ich mir so New York vor: schnell und laut, intensiv und und in ein spezielles Licht getaucht, das die Details hervortreten lässt.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass der erzählerische Fokus seine Grenzen hat. Manche Dinge wie Proxys oder die Widerstandsbewegung der Renegaten werden nur angedeutet, die gesamtgesellschaftlichen Folgen des Bewusstseinsstreamings wie dessen technische Umsetzung bleiben verschwommen. Candy Haus ist, trotz vieler Science-Fiction-Elemente, kein  SF-Roman und auch nicht gerade das, was man eine ‘runde Sache’ nennt. Egans Fähigkeit, uns Leser ungeachtet der episodischen Erzählform mit wenigen Sätzen quasi überfallartig mitten ins Leben einer Person zu versetzen und und unsere Anteilnahme zu wecken, macht die Lektüre dennoch zu einer faszinierenden Erfahrung.

Candy HausJennifer Egan
Candy Haus (The Candy House)

Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens

S. Fischer 2022

Jennifer Egan bei Amazon

John le Carré – Silverview

Eine junge Frau, Lily, überbringt jn London einen Brief ihrer todkranken Mutter Deborah an Proctor, den Chef des britischen Geheimdienstes. ‘In einem kleinen Küstenstädtchen irgendwo an den äußeren Gestaden von East Anglia’ bekommt Julian, Ex-Broker und seit kurzem stolzer, wenn auch nicht unbedingt kenntnisreicher Besitzer einer Buchhandlung, Besuch von Edward, einem alten Freund seines verstorbenen Vaters. Edward begeistert Julian für den Plan, im Keller seiner Buchhandlung eine ‘literarische Republik’ auszurufen: sechshundert wegweisende Bücher an einem Ort versammelt. Sein besonderes Interesse gilt freilich den Computern, die es für das Projekt anzuschaffen gilt …

Damit ist das Spiel eröffnet. Le Carré beschwört das klassische Inventar des Spionagethrillers herauf, inklusive Codenamen, schillernder Agentenführer, konspirativer Treffen und einer Begegnung in Englands supergeheimen Atomwaffenbunkern. Irgendwie geht es wieder mal um alles, doch in die Karten schauen lässt er uns nicht. So erfahren wir nie, was in dem Brief stand, den Deborah durch ihre Tochter übermitteln lässt. Auch viele andere Details bleiben im Dunkeln.  Das geheimdienstliche Treiben schildert le Carré mit ironischer Distanz. Mehr zu interessieren scheinen ihnen die ‘höflichen Sprachknäuel’, mit denen seine Figuren einander umtanzen, und die nicht minder verschlungenen Biographien, in denen sie gefangen sind.

Silverview ist le Carrés Alterswerk, erschienen erst nach seinem Tod im Jahr 2020. Und es ist ein augenzwinkernder Abschied von der obskuren Nebenwelt, um die sein gesamtes literarisches Werk kreist und die er nun zurückzulassen scheint. Der Alte gibt die Stafette gewissermaßen an die Jungen ab, verkörpert durch Lily und Julian, die sich um die Regeln des Geheimdienstes ebenso wenig scheren wie der Autor um die einst ehernen Regeln des Spionageromans. Dabei bleibt er sich selbst doch treu und feiert die Literatur in kunstvoll verschlungenen Dialogen und einer Sprache, die keinen Umweg scheut. In einer Zeit, da so mancher Autor bereits bei Verwendung des Semikolons Rechtfertigungsdruck verspürt, wirkt das wundervoll subversiv.

John le Carré war ein großer Autor, und ich persönlich bedaure, dass  ich ihn nach ‘Der Spion, der aus der Kälte kam’, mit dem er 1963 den literarischen Durchbruch schaffte, aus dem Blick verloren habe. Es gibt viel nachzuholen.

John le CarréSilverview : Le Carre, John: Amazon.de: Bücher
Silverview (Silverview)

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Ullstein 2021

John le Carré bei Amazon

Patricia Highsmith – Das Zittern des Fälschers

“Die Wüste verändert einen”, sagt Howard Ingham irgendwann. Der Prozess ist im Roman zu besichtigen. Zunächst aber herrscht Ferienstimmung. In einem kleinen Städtchen in Tunesien erwartet der Schriftsteller Ingham in einem Luxushotel das Eintreffen eines New Yorker Regisseurs, mit dem zusammen er ein Drehbuch entwickeln möchte. Doch der lässt ebenso auf sich warten wie die Post seiner Verlobten Ina. Also macht er Urlaub, schwimmt im Meer und schließt Bekanntschaft mit dem dänischen Maler  Jensen und dem Amerikaner Adams, einem bibelfesten Propagandisten des American Way of Life. Fünfzig Seiten lang geschieht beinahe nichts. Man ahnt, dass die Idylle nicht von Dauer ist, und Ingham ahnt es auch. Seine Nachfragen an der Hotelrezeption werden erst hektischer, dann versiegen sie allmählich.

Die Dinge geraten in Bewegung. Inghams Zeitgefühl löst sich auf, und er beginnt einen Roman mit dem Arbeitstitel Das Zittern des Fälschers. Der Regisseur hat sich in Inghams Wohnung umgebracht,  Ina hatte eine Affäre mit ihm. Jensens Hund verschwindet, und Ingham wirft einem Einbrecher seine Schreibmaschine an den Kopf. Der Mann bricht vor der Tür zusammen, die Hotelboys schleifen ihn fort. Ingham weiß nicht mit Sicherheit, ob der Eindringling tot ist, doch er nimmt es an. Für ihn hat das keine Konsequenzen. Was ist wichtig, was unwichtig? Er ist nicht nicht mehr sicher. Jensen sagt, der tote Araber sei nicht mehr wert als ein Floh. Das erscheint ihm plausibel. Befindet er sich nicht in einer fremden Welt, in der andere Maßstäbe gelten?

Wie um seinen Verwandlungsprozess zu beschleunigen, zieht Ingham zu Jensen ins Araberviertel. Die Beziehung zu dem schwulen Mann ist das eigentliche Zentrum des Romans. Während Ingham grübelt, was sein Wertesystem legitimiert und ob er nicht in der Lage sei, aus sich heraus autonom seine eigenen Werte zu schaffen, findet er bei dem nihilistischen Jensen Halt. Die homoerotische Komponente ihrer Beziehung ist dabei, wie vieles im Roman, nur angedeutet. Das Trinken aus einer Flasche bei einem Wüstenausflug ist auch schon der intimste Moment, den sie teilen. Überhaupt ist die Subtilität der Erzählung staunenswert. Nicht nur bleibt die große Katastrophe aus, in die Highsmith-Romane für gewöhnlich münden; alle Figuren sind ohne Wertung mit all ihrer Uneindeutigkeit und ihren Widersprüchen gezeichnet. Gedankengänge schlagen blitzschnell in ihr Gegenteil um. Selbst der tumbe, aufdringliche Adams, der heute vermutlich ein fanatischer Trumpist wäre, erweist sich immer wieder als sympathische, mitfühlende Person, und die arabischen Nachbarn, zunächst der Tötung von Jensens Hund verdächtigt, betrachtet Ingham am Ende auf einmal als ‘Freunde’.

Im lesenswerten Nachwort analysiert der Herausgeber Ingendaay akribisch die kunstvolle Komposition des Romans. Davon merkt man beim Lesen nichts; das heißt, man merkt es schon, wird sich dessen aber erst im Nachhinein bewusst. Nicht zufällig erschien Das Zittern des Fälschers 1969 nicht als Genreroman, sondern in der Hauptreihe ihres Verlages. Der amerikanische Herausgeber schrieb ihr, sie sei eine ‘große Schriftstellerin’. Wohl wahr.

Patricia Highsmith
Das Zittern des Fälschers (The Tremor of Forgery)

Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren

Diogenes 2002

Patricia Highsmith bei Amazon

Jonas Karlsson – Das Zimmer

Björn, den Ich-Erzähler des kurzen Romans von Jonas Karlsson, als Sonderling zu bezeichnen,  wäre stark untertrieben. Zunächst scheint es, als wäre er irgend so ein Einzelgänger, der Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen hat; ein Pedant, der das Pech hat, dass sich seine Weltsicht mangels zwischenmenschlicher Kommunikation nicht mit dem Denken Anderer abgleicht und deshalb zu Verschrobenheit wird. Doch nachdem er von seinem Arbeitsplatz in eine ominöse Behörde hochgelobt (beziehungsweise abgeschoben) wurde, entdeckt er das Zimmer. Es liegt auf dem Gang vor dem Großraumbüro, zwischen dem Lift und den Toiletten. Eigentlich ist es nicht viel anders als sein Arbeitsplatz; es gibt darin einen Schreibtisch, einen Stuhl, einen Schrank, einen Lampe und allerlei Büroutensilien. Doch allem ist eine nahezu mystische Vollkommenheit zu eigen. Während er sich von seinen Kollegen verunsichert und bedrängt fühlt, findet Björn im Zimmer Ruhe und Kraft. Zusammen mit der hübschen jungen Frau von der Rezeption erlebt er bei der Weihnachtsfeier sogar einen Moment ekstatischen Glücks. Pech nur, dass er allein den Eingang des Zimmers sehen und hindurchtreten kann.

Das alles wird erzählt in klaren, einfachen, aber niemals trivialen Sätzen. Aus akribisch geschilderten Details setzt sich das Bild eines beliebigen Großraumbüros zusammen, ein Ort der öden Verrichtungen, der kleinlichen Geplänkel und Reibereien. Nach etwa dreißig Seiten meint man nicht nur, man könne dem Protagonisten die Diagnose stellen, Zwangsneurose mit autistischen Zügen und psychotischen Tendenzen etwa, sondern man befürchtet,  die Geschichte könne sich so fortsetzen und selbst die gerade mal 173 großzügig  bedruckten Seiten seien womöglich noch zu lang.

Doch dann kommt plötzlich Dynamik auf. Dass ihr Kollege Björn immer mal wieder minutenlang weggetreten im Flur an der Wand lehnt, verunsichert die Kollegen und bringt sie auf gegen den Außenseiter. Ihr Widerstand verstärkt sich, als sie vom verborgenen Zimmer erfahren. Der Fall schein klar, siehe obige Diagnose. Doch dann schnappt sich Björn, ermüdet von den Idiotenjobs, mit denen man ihn beschäftigt, eine Akte seines Tischnachbarn, nimmt sie mit in das Zimmer und formuliert den gewünschten ‘Rahmenbeschluss’. Das gelingt ihm überraschend gut, und schon steht der vermeintliche Versager als Bürostar da.

Allmählich wird dem Leser klar, dass er ein kleines Juwel in Händen hält, eine Geschichte voller Überraschungen, Wendungen und Spiegelungen. Denn so wie Björns Arbeitsrealität sich in der Vollkommenheitsutopie des Zimmers spiegelt, spiegelt sich in der Trostlosigkeit des Büros auch etwas Allgemeineres. So heißt es an einer Stelle: “Mehr Menschen sollten lernen, ihre schlechten Seiten zu sehen. Das Schlechte ist uns allen gemeinsam. Wie heißt es so schön in Ekelöfs Gedicht: ‘Was das Seichte in Dir, ist auch das Seichte bei anderen.” Man denkt an Kafka und Beckett, und wenn erörtert wird, ob das Zimmer, das Björn sieht, aber die anderen nicht, vielleicht doch ‘ein bisschen’ vorhanden ist, kommt einem unwillkürlich Schrödingers bedauernswerte Katze in den Sinn, die gleichzeitig tot und lebendig ist. Ein großer kleiner Roman.

Jonas Karlsson
Das Zimmer, Roman

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Luchterhand 2016

Jonas Karlsson bei Amazon