Archiv der Kategorie: Literatur

Andrew Wilson – Schöner Schatten: Patricia Highsmith

Patricia Highsmith, geboren 1921 in Texas und gestorben 1995 in der Schweiz, war ebenso vielschichtig, rätselhaft und widersprüchlich wie ihre Figuren, diese tragischen Antihelden, die sich in Schuld und Fantasien von Liebe verstricken, deren Gewissheiten sich auflösen, bei denen Realität und Fantasien ineinanderfließen, deren Identitäten zerbrechen und changieren und denen die Moral abhanden kommt. Für ihren amerikanischen Verleger war sie die grässlichste Person, die er kannte, verschlossen, unzugänglich, gemein und böse. Andere undefinedlobten ihren Charme, ihre unverstellte Natürlichkeit und Hilfsbereitschaft. Offenbar vermochte sie gerade in jungen Jahren Menschen für sich zu gewinnen, davon zeugt eine lange Reihe von Geliebten. Schon früh wurde ihr klar, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlte, und seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr lebte sie diese Neigung aus. Das hinderte sie freilich nicht daran, sich noch mit fünfundzwanzig, verlobt mit einem männlichen Schriftstellerkollegen, den sie bei einem Arbeitsstipendium kennengelernt hatte, in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, um ihre ‘widernatürliche’ sexuelle Orientierung zu überwinden. Die Verlobung wurde gelöst, die ‘Therapie’ abgebrochen, doch ihre eigene Identität blieb umkämpftes Terrain. Ihr Leben lang litt sie unter langen Phasen der Depression, in denen sie fürchtete, verrückt zu werden. Ihre Beziehungen zeigten ein wiederkehrendes Muster: manische Verliebtheit zu Beginn, dann ein Ende in Schrecken, voller Hass und masochistischer Selbstzerfleischung.

Verlässliches Glück fand sie nur in der Arbeit und verfasste neben zahlreichen Story-Bänden zweiundzwanzig Romane, von denen fünf von Tom Ripley handeln, ihrer Lieblingsfigur, die sie als eine Art Ebenbild betrachtete. Der Erfolg stellte sich früh ein. Nachdem sie ihren ersten Roman Carol wegen seiner lesbischen Thematik noch unter Pseudonym veröffentlicht hatte, wurde ihr zweiter, Zwei Fremde im Zug,  bereits von Hitchcock verfilmt, was ihrer literarischen Karriere enormen Schub verlieh. Bloß in Amerika fremdelte das Publikum. Den größten Erfolg hatte sie in Europa, woran Daniel Keel vom Diogenes Verlag besonderen Anteil hatte.  Der Grund mag sein, dass ihr Werk, das sich der Einordnung in Genrekategorien entzieht, nicht nur ihr zerrissenes, fragmentiertes Inneres widerspiegelt, sondern auf einer allgemeineren Ebene die schmerzhaften Randeffekte von Individualisierung und moralischem Wandel thematisiert. Wohl keiner hat die Heuchelei, die sich unter der dünnen Decke der so genannten Normalität verbirgt, so hellsichtig aufgespießt wie Highsmith, und dafür war man in Europa möglicherweise empfänglicher als im konservativeren Amerika.

Basierend auf Highsmiths umfangreichen Tagebüchern, ihrem Briefwechsel sowie zahlreichen Interviews mit Lebensgefährtinnen, Freunden und Feinden  hat Andrew Wilson einen faszinierenden Führer durch ihr wildbewegtes Leben und ihr psychologisch komplexes, das Thrillergenre sprengende Werk verfasst. Seine Biographie ist so faktenreich wie ein kleines Lexikon und so spannend wie ein Roman, wenn man nicht gerade ein Werk von Highsmith zum Vergleich heranzieht. Nach der Lektüre meint man, sie zu kennen wie eine gute alte Freundin, und entsprechend groß ist die Trauer am Ende des Buchs, denn wie jede Biographie endet es nun mal mit dem Tod. Näher aber kann man Highsmith wohl kaum kommen, und deshalb sei Wilsons Biographie jedem empfohlen, dem sie mit ihren verstörenden Büchern schlaflose Nächte bereitet hat.

Andrew Wilson
Schöner Schatten: Patricia Highsmith

Berlin Verlag 2003

Patricia Highsmith bei Amazon

Voosen/Danielsson – Der rote Raum

Der rote Raum ist der neunte Band der bislang zehn Bände umfassenden Krimi-Reihe um die schwedischen Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss. verfasst vom Autoren-Duo Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson. In einem teuren Wohnturm in Växjö wird ein Toter mit einer Kugel im Kopf gefunden. Sein Brustkorb wurde geöffnet, das Herz entnommen und stattdessen ein kleiner Mondmeteorit hineingelegt. Das Opfer, ein zurückgezogen lebender Informatiker, Überlebender des erweiterten Suizids seiner Eltern, war ein schwer traumatisierter Mann, der mit Echsen besser auszukommen schien als mit Menschen, weshalb sich weit und breit kein Tatverdächtiger mit plausiblem Motiv auffinden lässt. Dieser Fall gibt der ermittelnden Ingrid Nyström eine harte Nuss zu knacken. Zeitgleich erweist sich ein vermeintlicher Arbeitsunfall in Kiruna als Mord, und auch hier wurde ein Organ entnommen, diesmal die Leber. Beide  Fälle werden getrennt untersucht, letzterer von Stina Forss, die vor einem Locked-Room-Rätsel steht. Und dann gibt gibt es noch einen dritten Erzählstrang: Zwei Junge Männer reisen auf Vespa-Rollern von Schweden nach Griechenland, scheinbar ein harmloser Urlaub angehender Studenten. Wie das wohl zusammenhängt?

Alle drei Erzählstränge erscheinen angemessen disparat und machen Lust auf eine wendungsreiche Auflösung, aber die schleppt sich dahin. Die beiden Kommissarinnen bleiben merkwürdig blass, was insbesondere bei Nyström verwundert, trägt sie doch nicht nur Augenklappe, sondern auch ein schweres Paket Schuldgefühle, weil sie im vorigen Band den Mörder der Partnerin ihrer Schwiegertochter im Beisein ihrer Kollegen in Selbstjustiz erschossen hat. Den Kollegen hingegen kommt man schon näher, vielleicht weil es zwischen ihnen und der jungen Teamergänzung Sara Hjalmarsson so schön menschelt. Während die alten Männer sich zum Gockel machen, bringt Hjalmarsson, auf der Schule wegen ihrer Legasthenie und ihrer Oberweite Sexy Lexie genannt, den Fall des Echsen-Manns schließlich entscheidend weiter.

Es ist schon ein bisschen seltsam, dass die Nebenfiguren farbiger rüberkommen als die beiden Kommissarinnen. Vielleicht liegt es auch an der glanzlosen, aber wortreichen Sprache, dass sich die Lektüre über weite Strecken mächtig zieht. Dazu trägt auch der ausgeprägte Hang der Autoren zur Internetrecherche bei. Ob das Tunen von Vespas, schwedischer Hip-Hop, der rote Raum (hier ein Chatraum im Darknet, so viel sei verraten) in Malerei, Literatur, Populärkultur und so weiter, alles wird breitgetreten, als gelte es die Liste, die Google ausgespuckt hat, lückenlos abzuhaken. Da wäre weniger manchmal mehr gewesen.

Beginnt man eine unbekannte Krimi-Reihe, steht die Hoffnung im Raum, auf vielbändigen fesselnden Lesestoff zu stoßen. Diese Erwartung kann die Reihe um Nyström und Forss trotz des durchaus packenden Finales leider nicht erfüllen. Der rote Raum ist ein solider Krimi, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Der rote Raum / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.9 von Roman Voosen; Kerstin  Signe Danielsson als Taschenbuch - Portofrei bei bücher.de

Voosen/ Danielsson
Der rote Raum

Kiepenheuer & Witsch 2021

Voosen/Danielsson bei Amazon

Jennifer Egan – Candy Haus

Der Umschlag ist bunt, Candy Haus steht drauf, und wie ein Haus aus oder voller buntem Candy ist tatsächlich der Roman. Jedes Kapitel ist anders. Die klassische Kurzgeschichte kommt vor, die auktoriale und die Ich-Erzählung, innerer Monolog in Aphorismenform, E-Mail-Kommunikation, Abschweifung und Verdichtung, Verrätseltes und Erhellendes, Triviales und Raffiniertes, Berührendes und Forderndes, Vergangenheit (angefangen bei der Hippiezeit) über die Gegenwart bis zur Zukunft (2035).

An Anfang und Ende des Romans steht Bix Bouton, der Gründer und Erfinder von Mandala, einem Social-Media-Konzern, der nicht zufällig Ähnlichkeiten mit Zuckerburgs Meta und Facebook aufweist.  Reich, erfolgreich und glücklich verheiratet, befindet er sich mitten in einer Lebenskrise: Was soll jetzt noch kommen?  Die Erkenntnis überfällt ihn als Vision, als er sich an den Tod seines Jugendfreundes Rob erinnert: Hätte er den Ertrinkenden vielleicht retten können? Daraus wird ‘Besitze dein Unbewusstes’, das es den Nutzern erlaubt, eigene und fremde Erinnerungen nachzuerleben. Mandala ermöglicht es seinen Kunden, ihr Bewusstsein in einen kleinen Kubus hochzuladen und es online zu teilen, eine Fortschreibung der Social Media, wie wir sie kennen, und eine neue Form des Streamings. Die ‘Zählenden’, qualifizierte Autisten, ‘algebrasieren’ den Datenfundus und machen ihn nutzbar, Cyborg-Duplikate, so genannte Proxys, agieren als Stellvertreter ihrer Originale, die Renegaten verweigern sich der Vergesellschaftung des Persönlichen, und es wird Missbrauch betrieben mit ‘Asseln’, welche die Regierung ihren Soldaten und Agenten zum Zweck der Überwachung in den Kopf einpflanzt und die auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden, zu welchen Zwecken auch immer. Im Zentrum aber steht der gealterte Bennie Zalazar, Egan-Lesern bereits aus ihrem Roman Der grössere Teil der Welt bekannt, zu Beginn cleverer Profiteur der disruptiven Technik des Musikstreamings, jetzt Opfer einer neuen Form des Streamings. Um ihn gruppiert sich ein Mikrokosmos von Figuren, hart gegeneinander geschnittene Lebensgeschichten, kunstvoll verdichtet zu  Episoden, die häufig von einem Wendepunkt erzählen wie die Eingangsgeschichte von Bix und in denen sich das heutige medial verwobene Leben wie in den Zerrspiegeln  von Kirmesbuden spiegelt, mal grotesk verzerrt, mal auf den Kern reduziert, beziehungsweise auf den Punkt gebracht und immer, ungeachtet der Form, lebensprall. Dieser Roman setzt die Synapsen unter Strom. Irgendwie stelle ich mir so New York vor: schnell und laut, intensiv und und in ein spezielles Licht getaucht, das die Details hervortreten lässt.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass der erzählerische Fokus seine Grenzen hat. Manche Dinge wie Proxys oder die Widerstandsbewegung der Renegaten werden nur angedeutet, die gesamtgesellschaftlichen Folgen des Bewusstseinsstreamings wie dessen technische Umsetzung bleiben verschwommen. Candy Haus ist, trotz vieler Science-Fiction-Elemente, kein  SF-Roman und auch nicht gerade das, was man eine ‘runde Sache’ nennt. Egans Fähigkeit, uns Leser ungeachtet der episodischen Erzählform mit wenigen Sätzen quasi überfallartig mitten ins Leben einer Person zu versetzen und und unsere Anteilnahme zu wecken, macht die Lektüre dennoch zu einer faszinierenden Erfahrung.

Candy HausJennifer Egan
Candy Haus (The Candy House)

Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens

S. Fischer 2022

Jennifer Egan bei Amazon

John le Carré – Silverview

Eine junge Frau, Lily, überbringt jn London einen Brief ihrer todkranken Mutter Deborah an Proctor, den Chef des britischen Geheimdienstes. ‘In einem kleinen Küstenstädtchen irgendwo an den äußeren Gestaden von East Anglia’ bekommt Julian, Ex-Broker und seit kurzem stolzer, wenn auch nicht unbedingt kenntnisreicher Besitzer einer Buchhandlung, Besuch von Edward, einem alten Freund seines verstorbenen Vaters. Edward begeistert Julian für den Plan, im Keller seiner Buchhandlung eine ‘literarische Republik’ auszurufen: sechshundert wegweisende Bücher an einem Ort versammelt. Sein besonderes Interesse gilt freilich den Computern, die es für das Projekt anzuschaffen gilt …

Damit ist das Spiel eröffnet. Le Carré beschwört das klassische Inventar des Spionagethrillers herauf, inklusive Codenamen, schillernder Agentenführer, konspirativer Treffen und einer Begegnung in Englands supergeheimen Atomwaffenbunkern. Irgendwie geht es wieder mal um alles, doch in die Karten schauen lässt er uns nicht. So erfahren wir nie, was in dem Brief stand, den Deborah durch ihre Tochter übermitteln lässt. Auch viele andere Details bleiben im Dunkeln.  Das geheimdienstliche Treiben schildert le Carré mit ironischer Distanz. Mehr zu interessieren scheinen ihnen die ‘höflichen Sprachknäuel’, mit denen seine Figuren einander umtanzen, und die nicht minder verschlungenen Biographien, in denen sie gefangen sind.

Silverview ist le Carrés Alterswerk, erschienen erst nach seinem Tod im Jahr 2020. Und es ist ein augenzwinkernder Abschied von der obskuren Nebenwelt, um die sein gesamtes literarisches Werk kreist und die er nun zurückzulassen scheint. Der Alte gibt die Stafette gewissermaßen an die Jungen ab, verkörpert durch Lily und Julian, die sich um die Regeln des Geheimdienstes ebenso wenig scheren wie der Autor um die einst ehernen Regeln des Spionageromans. Dabei bleibt er sich selbst doch treu und feiert die Literatur in kunstvoll verschlungenen Dialogen und einer Sprache, die keinen Umweg scheut. In einer Zeit, da so mancher Autor bereits bei Verwendung des Semikolons Rechtfertigungsdruck verspürt, wirkt das wundervoll subversiv.

John le Carré war ein großer Autor, und ich persönlich bedaure, dass  ich ihn nach ‘Der Spion, der aus der Kälte kam’, mit dem er 1963 den literarischen Durchbruch schaffte, aus dem Blick verloren habe. Es gibt viel nachzuholen.

John le CarréSilverview : Le Carre, John: Amazon.de: Bücher
Silverview (Silverview)

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Ullstein 2021

John le Carré bei Amazon

Hilary Mantel – Brüder

Mantels 1100-Seiten-Roman Brüder  (A Place of Greater Safety),  bereits in den Siebzigerjahren begonnen und erst 1992 auf Englisch und auf Deutsch erschienen, erzählt die Geschichte der Französischen Revolution. Nun ist es ja so eine Sache mit historischen Romanen: Sie malen die bisweilen trockene Wahrheit der Geschichtsbücher in lebendigen Farben und nachempfundenen Szenen aus, die man, wenn das Unternehmen glückt, für die Wirklichkeit nimmt. Dass sich dabei Ausgedachtes mit Belegtem mischt, geht da bisweilen unter. Dieses Dilemmas ist sich auch die Autorin wohl bewusst und spricht es im Vorwort deutlich an – um es gleich darauf mit ihrer Erzählkunst vergessen zu machen.

Drei Personen stehen im Zentrum des Romans; Camille Desmoulins, Georges Danton und Maximilien de Robespierre. Sie sind die drei titelgebenden Brüder im Geiste. Alle drei stammen aus der Provinz, absolvieren eine Anwaltsausbildung und nehmen in der Revolution eine herausragende Stellung ein.

Demoulins, ein stotternder, aufmüpfiger Junge mit herausragender Intelligenz, wird von den Eltern auf ein Pariser Internat geschickt, wo er sich mit Robespierre anfreundet und durch die Literatur der Aufklärung (Rousseau) in seiner monarchiekritischen Haltung bestärkt wird. Später wird er zum scharfzüngigen Herausgeber von Zeitungen und Autor aufrührerischer Pamphlete.  Er ist es, der die hungernde, zornige Menge 1789 zum Sturm auf die Bastille anfeuert. Zusammen mit Danton und Robespierre leitet er den Tuileriensturm und das Septembermassaker von 1792 in die Wege, dem mehr als tausend angebliche Royalisten und Verschwörer zum Opfer fallen. Der auch heute wieder besonders in rechten Kreisen beliebte Volkswille, Rousseaus  naive Fiktion einer einheitlichen Gemeinschaft, die alle gesellschaftlichen Widersprüche in sich auflöst, zeigt hier erstmals seine blutige Fratze. Die drei Brüder stehen hier noch eng beisammen; Camille, der wilde Theoretiker und Schreiber; Danton, der Mann, der die umstürzenden Verhältnisse auch als Gelegenheit ansieht, sich zu bereichern und seiner Lebenslust zu frönen; und der anfangs so rechtschaffene, idealistische Robespierre, der mit seinem Wohlfahrtsausschuss zum Inquisitor mutiert. Der Terror wird zu Staatspolitik erhoben, die Revolution frisst ihre Kinder. Es entwickelt sich eine Eigendynamik, die aus Antreibern Getriebene macht und alle Ideale, auch das hehre Revolutionsmotto Liberté, Égalité, Fraternité, in ihr Gegenteil verkehrt. Jeder beargwöhnt jeden, Verschwörungen werden aufgedeckt und erfunden, mit demagogischen Reden vor dem Volkskonvent suchen die Fraktionen Unterstützer, um den Gegner zu eliminieren, und das heißt, ihn der Guillotine zu überantworten. Camille bekommt kalte Füße und versucht zusammen mit Danton den Terror zu beenden, doch da ist es bereits zu spät. Die Institutionen sind zerschlagen, Recht und Gesetz zur Farce geworden. Das Biest der Revolution duldet keinen Reiter mehr.

Mantel zeichnet diese Entwicklung bis zum Jahr 1794 als vielstimmiges Wimmelbild, mit ausgedehnten, nuancenreichen Dialogen voller Witz, die zeitverbunden wirken, aber niemals historisierend, sondern quicklebendig. Der Fokus liegt auf der Lebenswirklichkeit der großen und kleinen Protagonisten. Lucile, Camilles scharfsichtige Ehefrau, kommentiert Ehe, Politik und Revolutionsmode, der Henker beklagt sich über seine Arbeitsbelastung, Marie Antoinette sieht im Kerker der Hinrichtung entgegen, de Sade räsoniert über wahrgewordene Blutfantasien, Camilles Vater schämt sich für seinen missratenen Sohn, die Politiker intrigieren, was das Zeug hält. Wie das Brechtsche epische Theater bricht Mantel immer wieder den Erzählstrom, lässt Zitate aus Dokumenten, Zeitungen und Reden einfließen, macht Anmerkungen zu Brotpreis und Tagelöhnersold, als wollte sie den Leser daran erinnern, dass alles Fleisch auf dem Gerippe der Fakten Fiktion ist.

Bei all den politischen Gruppierungen, den Hébertisten, Sansculotten, Cordeliers, Girondisten und so weiter kann man schon mal den Überblick verlieren und wünscht sich, die großen Linien , so es sie denn gibt, träten deutlicher hervor, die erste ausgearbeitete Verfassung würde stärker gewürdigt und Frankreichs Krieg mit den Kontinentalmächten ein wenig ausführlicher geschildert, doch das ist Erbsenpickerei. Mantels Roman Brüder  ist eine faszinierende Lektüre mit historischem Erkenntniszugewinn und macht mächtig Lust auf ihre vielgerühmte Chromwell-Trilogie.

Hilary Mantel
Brüder (A Place of Greater Safety)

Aus dem Englischen von Kathrin Rhazum und Sabine Roth

Dumont 2012

Hilary Mantel bei Amazon

Patricia Highsmith – Das Zittern des Fälschers

“Die Wüste verändert einen”, sagt Howard Ingham irgendwann. Der Prozess ist im Roman zu besichtigen. Zunächst aber herrscht Ferienstimmung. In einem kleinen Städtchen in Tunesien erwartet der Schriftsteller Ingham in einem Luxushotel das Eintreffen eines New Yorker Regisseurs, mit dem zusammen er ein Drehbuch entwickeln möchte. Doch der lässt ebenso auf sich warten wie die Post seiner Verlobten Ina. Also macht er Urlaub, schwimmt im Meer und schließt Bekanntschaft mit dem dänischen Maler  Jensen und dem Amerikaner Adams, einem bibelfesten Propagandisten des American Way of Life. Fünfzig Seiten lang geschieht beinahe nichts. Man ahnt, dass die Idylle nicht von Dauer ist, und Ingham ahnt es auch. Seine Nachfragen an der Hotelrezeption werden erst hektischer, dann versiegen sie allmählich.

Die Dinge geraten in Bewegung. Inghams Zeitgefühl löst sich auf, und er beginnt einen Roman mit dem Arbeitstitel Das Zittern des Fälschers. Der Regisseur hat sich in Inghams Wohnung umgebracht,  Ina hatte eine Affäre mit ihm. Jensens Hund verschwindet, und Ingham wirft einem Einbrecher seine Schreibmaschine an den Kopf. Der Mann bricht vor der Tür zusammen, die Hotelboys schleifen ihn fort. Ingham weiß nicht mit Sicherheit, ob der Eindringling tot ist, doch er nimmt es an. Für ihn hat das keine Konsequenzen. Was ist wichtig, was unwichtig? Er ist nicht nicht mehr sicher. Jensen sagt, der tote Araber sei nicht mehr wert als ein Floh. Das erscheint ihm plausibel. Befindet er sich nicht in einer fremden Welt, in der andere Maßstäbe gelten?

Wie um seinen Verwandlungsprozess zu beschleunigen, zieht Ingham zu Jensen ins Araberviertel. Die Beziehung zu dem schwulen Mann ist das eigentliche Zentrum des Romans. Während Ingham grübelt, was sein Wertesystem legitimiert und ob er nicht in der Lage sei, aus sich heraus autonom seine eigenen Werte zu schaffen, findet er bei dem nihilistischen Jensen Halt. Die homoerotische Komponente ihrer Beziehung ist dabei, wie vieles im Roman, nur angedeutet. Das Trinken aus einer Flasche bei einem Wüstenausflug ist auch schon der intimste Moment, den sie teilen. Überhaupt ist die Subtilität der Erzählung staunenswert. Nicht nur bleibt die große Katastrophe aus, in die Highsmith-Romane für gewöhnlich münden; alle Figuren sind ohne Wertung mit all ihrer Uneindeutigkeit und ihren Widersprüchen gezeichnet. Gedankengänge schlagen blitzschnell in ihr Gegenteil um. Selbst der tumbe, aufdringliche Adams, der heute vermutlich ein fanatischer Trumpist wäre, erweist sich immer wieder als sympathische, mitfühlende Person, und die arabischen Nachbarn, zunächst der Tötung von Jensens Hund verdächtigt, betrachtet Ingham am Ende auf einmal als ‘Freunde’.

Im lesenswerten Nachwort analysiert der Herausgeber Ingendaay akribisch die kunstvolle Komposition des Romans. Davon merkt man beim Lesen nichts; das heißt, man merkt es schon, wird sich dessen aber erst im Nachhinein bewusst. Nicht zufällig erschien Das Zittern des Fälschers 1969 nicht als Genreroman, sondern in der Hauptreihe ihres Verlages. Der amerikanische Herausgeber schrieb ihr, sie sei eine ‘große Schriftstellerin’. Wohl wahr.

Patricia Highsmith
Das Zittern des Fälschers (The Tremor of Forgery)

Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren

Diogenes 2002

Patricia Highsmith bei Amazon

Alex Michaelides – Die verschwundenen Studentinnen

Tragik liegt in der Luft

In seinem Erstling Die stumme Patientin  verblüfft Michaelides mit einem Stunt in Form zweier parallel erzählter Handlungsstränge, die vom Leser  in derselben Zeitebene angesiedelt werden. Dass sie ‘in Wirklichkeit’ zeitlich versetzt spielen, erschließt sich erst zum Schluss und lässt die Geschichte in ganz neuem Licht erscheinen. Die Wirkung ist frappierend und lohnt allein schon die Lektüre. Jetzt ist Michaelides’ zweites Buch erschienen, und es stellt sich die Frage, ob es dem Autor gelingt, an seinen frappierenden Erstling anzuschließen.

Jedenfalls bleibt er bei seinen bewährten Leisten. Nach dem Psychotherapeuten Faber in Die stumme Patientin steht diesmal die Gruppentherapeutin Mariana Andros im Mittelpunkt. Als eine Kommilitonin ihrer Nichte und Ziehtochter Zoe ermordet wird, reist Mariana zu ihr nach Cambridge, um  ihr beizustehen, und bleibt, um auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen. Schon bald hat sie sich auf einen undurchsichtigen Professor versteift, der Griechisch unterrichtet und einem Geheimbund junger Studentinnen vorsteht, genannt ‘Die Mädchen’. Das Mordopfer kommt aus diesem Kreis, und bald ist auch schon das zweite Mädchen. Weitere Zutaten zu der Geschichte sind gewichtige Zitate von Tennyson und Shakespeare, die griechischen Tragödien mit besonderer Betonung auf Euripides, die romantischen Gemäuer und stillen Höfe von Cambridge, ein eifersüchtiger Patient, der Mariana nachstellt, ein zudringlich-charmanter Physikstudent, ein auffälliger Portier und eine dreiste Reinemachfrau. Doch das Gericht mag nicht recht schmecken. Für Mariana, die sehr auffällig ihrem auf Naxos (!) verstorbenen Mann nachtrauert, gilt das Motto ‘Denn sie weiß nicht, was sie tut’. Ihre Ermittlungsbemühungen wirken unbeabsichtigt tapsig, ihr psychologischer Durchblick ist durch eine beschlagene Brille getrübt, und wenn es knifflig wird, ist sie hilflos und muss schon mal weinen. In der Rolle der Ermittlerin ist sie eine glatte Fehlbesetzung. Dass der oben erwähnte Professor von Anfang an als Hauptverdächtiger aufgebaut wird, ist der Spannung ebenfalls nicht zuträglich, weiß man doch, dass er den ungeschriebenen Gesetzen der Kriminalliteratur nach der Täter nicht sein kann.

Leider ist die aus dem Ruder gelaufene Gruppensitzung vom Anfang des Buches bereits eine der spannendsten Episoden. Und es ist klar, dass sich der erzählerische Trick aus dem ersten Buch nicht wiederholen lässt. Stattdessen offenbaren sich am Ende haarsträubende Verwicklungen, die eher Kopfschütteln als emotionale Betroffenheit auslösen. Das gilt übrigens auch für den deutschen Titel. ‘Verschwunden’ sind die Studentinnen nämlich nicht wirklich, werden sie doch recht schnell aufgefunden, wenn auch tot. Der neutrale englische Titel ‚The Maidens  trifft es besser.

Alex Michaelides
Die verschwundenen Studentinnen (The Maidens)

Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp

Droemer 2021

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Brian Greene – Bis zum Ende der Zeit

Wie schon in Der Stoff aus dem der Kosmos ist und Die verborgene Wirklichkeit, nimmt Brian Greene auch in Bis zum Ende der Zeit wieder das  größte erforschbare Ganze in den Blick, nämlich den Kosmos aus physikalischer Sicht, diesmal ergänzt mit einer umfassenden Darstellung von Entstehung und Evolution von Leben und Bewusstsein.

Daraus ergibt sich logischerweise eine Dreiteilung. Der erste Teil des Buches beginnt mit dem Urknall und schildert die daran anschließende überlichtschnelle Ausdehnung des Raums (Inflation), die Kondensation der Energie zu Wasserstoff, die Verdichtung der Gasmoleküle zu Sonnen, die Zündung der Kernfusion und die Bildung von Filamenten und  Galaxien. Im letzten Teil  schließlich nimmt er die Zukunft des Kosmos in den Blick und beschreibt dessen Alterung bis zum Ausbrennen der letzten Sterne, dem Erstarren jeder Bewegung im Zustand maximaler Entropie und schließlich dem Zerreißen der Atome und Elementarteilchen. Dies entspricht dem derzeit  von der Mehrheit der Wissenschaftler favorisierten kosmologischen Konzept der von Dunkler Energie angetriebenen beschleunigten Expansion des Universums. Auch wenn die Darstellung aufgrund der Konzeption des Buches weniger in die Tiefe geht als bei seinen beiden oben genannten Büchern, läuft Greene als Mathematiker und Physiker bei diesen Themen zu Hochform aus und erweist sich wieder einmal als ein Meister des populären Sachbuchs. Seine Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte zu veranschaulichen, zeigt sich auch hier. Auch die offenen Fragen der Grundlagenphysik werden angesprochen: Bislang weiß niemand, was genau sich hinter den Begriffen Dunkle Energie und Dunkle Materie verbirgt. Es könnte auch sein, dass es sie gar nicht gibt und dass stattdessen bislang unbekannte Gravitationseffekte für die mit ihnen erklärten Phänomene verantwortlich sind. Ebenso vorläufig ist auch das Konzept der beschleunigten Expansion. Möglich wäre unter bestimmten Bedingungen auch ein zyklisches Universum, in dem die Expansionsgeschwindigkeit irgendwann wieder abnimmt und  in Kontraktion übergeht, worauf ein  weiter Urknall folgen könnte. Dass Greene Schwach- und Leerstellen der Forschung anspricht und Vertretern anderer Deutungen Raum gibt, ist einer seiner vielen Vorzüge.

Der mittlere Teil hat mich weniger überzeugt. Vielleicht liegt es daran, dass Greene hier den sicheren Boden seines Fachgebiets verlässt. Wenn er die Bildung der ersten sich selbst replizierenden Moleküle schildert, macht sich das noch kaum bemerkbar, doch wo es um Bewusstsein, Sprache, Religion, Literatur und Musik geht, wird ein gewisser Schematismus erkennbar: dieser Forscher sagt dies zum Thema, jener das. Die vorgestellten Wissenschaftler mögen den aktuellen Forschungsstand repräsentieren, und die Auswahl der Zitate scheint treffend, doch es mangelt ein bisschen an der sonstigen Stringenz, auch wenn Greene konsequent den evolutionären Selektionsvorteil als Leitfaden verwendet.  

Ein Kritikpunkt

Greene, der sich selbst als Reduktionisten bezeichnet, ist ein Vertreter des Super-Determinismus. Für ihn gibt es nur Teilchen und Schwingungen, die physikalischen Gesetze und eine Kausalkette, die vom Urknall bis in die Gegenwart reicht. Das Kausalitätsprinzip gilt in dieser Interpretation auch für die Welt der Quanten. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass die Gegenwart bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein im Ausgangspunkt angelegt ist. Der kleine Arbeitsplatz, an dem ich diesen Post tippe, der Teefleck vor mir auf der Tischplatte und der Kater, der mich in diesem Moment mit seinen grünen Augen fragend anschaut, das alles wäre demnach prädeterminiert, eine notwendige Folge der Ausgangsbedingungen . Selbst die Gedanken, die ich denke und die von der Teilchenanordnung, den elektrischen Strömen und Feldern meines Gehirn erzeugt werden, wären zwangsläufig. Für freien Willen ist in dieser Welt kein Platz. Konzepte wie Schuld, Verantwortung, Kreativität würden fadenscheinig, und wir wären nichts weiter als die Beobachter eines Schauspiels, das bereits vor 13,8 Milliarden Jahren bis ins allerkleinste Detail festgelegt worden wäre. Es ist wohl nicht falsch, dieses Konzept als Wiederauflage des mechanistischen Weltbilds unter Einbeziehung der Quantenmechanik zu bezeichnen. Da es weder verifizierbar noch falsifizierbar ist, handelt es sich um Spekulation. Ich finde Vorstellung so grauenhaft, dass mir im Vergleich selbst die Fron des Sisyphus als Selbsterfahrungsurlaub erscheint. Greene selbst gibt zu, deprimiert und erschüttert gewesen zu sein, als er während des Studiums zu dieser Erkenntnis gelangte. 

Dass einem eine Erkenntnis nicht behagt, ist natürlich kein Argument dafür, dass sie falsch ist. Und leider fehlt es mir als Laien am nötigen Wissen, um kompetent argumentieren zu können. Allerdings leuchtet mir nicht ein, weshalb auch die Quantenwahrscheinlichkeiten kausal bedingt sein sollen. Wurde die Theorie der verborgenen Variablen nicht längst verworfen? Kurzum: Ich lehne den Superdeterminismus aus ganzem Herzen ab. Die Gegenpositionen hat Greene meiner Meinung nach nicht ausreichend berücksichtigt. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass auch er so lebt und schreibt, als gäbe es den Superdeterminismus nicht, und dass diese These im weiteren Verlauf des Buches keine große Rolle mehr spielt. 

Was ich gelernt habe

Diese beiden Dinge waren unter anderem neu für mich.

Erstens: Die Dichte eines Schwarzen Lochs nimmt mit steigendem Radius ab. Ein Schwarzes Loch mit der viermilliardenfachen Sonnenmasse hätte demnach gerade mal die Dichte der Luft, die wir atmen. Trotzdem hätte es einen Ereignishorizont. Das widerspricht der landläufigen Vorstellung eines gierigen, hochverdichteten schwarzen Monsters völlig. Erstaunlich!

Zweitens: Die Sache mit den Boltzmann-Gehirnen im Kapitel über die Zukunft des Denkens. Stellt man sich das Ende des Kosmos als leeren Raum mit zerfallenen Teilchen vor, hätte diese Leere einen Horizont, der Strahlung abgibt, vergleichbar der Hawking-Strahlung, die Schwarze Löcher mit der Zeit verdampfen lässt. Wäre der Endzustand von ‘ewiger’ Dauer, würden die in der Leere der Unendlichkeit umherschwirrenden Teilchen sich irgendwann begegnen und nach und nach alle möglichen Konfigurationen annehmen, darunter auch die eines mit Pseudoerinnerungen ausgestatteten Gehirns. Gruselig! Greene liebt solche Gedankenspiele, auch wenn sie nicht sonderlich plausibel sind.

Fazit

Leibniz’ große Frage ‘Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?’ kann das Buch natürlich nicht beantworten.  Aber es beschreibt anschaulich das kosmische Schauspiel, in dem wir als ameisenhafte Kreaturen das Rätsel unserer Existenz in den Blick nehmen. Trotz der oben aufgeführten Kritik kann ich Bis zum Ende der Zeit empfehlen. Wer sich allerdings speziell für Kosmologie interessiert, der ist mit Der Stoff, aus dem der Kosmos ist  besser bedient.

Ein Tipp

Wem Leibniz’ Frage keine Ruhe lässt, der sei auf die Vorlesung Was war vor dem Urknall von Prof. Ganteföhr von der Uni Konstanz verwiesen; allgemeinverständlich und unterhaltsam eröffnet sie einen hochinteressanten Ausblick auf ein neues Konzept von Gaßner, wonach der Urknall auf die Quantenfluktuation eines höherdimensionalen Raums zurückzuführen ist. Die Reise geht weiter.

Brian Greene: Bis zum Ende der Zeit. Siedler Verlag (Hardcover)

Brian Greene
Bis zum Ende der Zeit

Aus dem Englischen von Sebastian Vogel

Siedler 2020

Brian Greene bei Amazon

Jonas Karlsson – Das Zimmer

Björn, den Ich-Erzähler des kurzen Romans von Jonas Karlsson, als Sonderling zu bezeichnen,  wäre stark untertrieben. Zunächst scheint es, als wäre er irgend so ein Einzelgänger, der Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen hat; ein Pedant, der das Pech hat, dass sich seine Weltsicht mangels zwischenmenschlicher Kommunikation nicht mit dem Denken Anderer abgleicht und deshalb zu Verschrobenheit wird. Doch nachdem er von seinem Arbeitsplatz in eine ominöse Behörde hochgelobt (beziehungsweise abgeschoben) wurde, entdeckt er das Zimmer. Es liegt auf dem Gang vor dem Großraumbüro, zwischen dem Lift und den Toiletten. Eigentlich ist es nicht viel anders als sein Arbeitsplatz; es gibt darin einen Schreibtisch, einen Stuhl, einen Schrank, einen Lampe und allerlei Büroutensilien. Doch allem ist eine nahezu mystische Vollkommenheit zu eigen. Während er sich von seinen Kollegen verunsichert und bedrängt fühlt, findet Björn im Zimmer Ruhe und Kraft. Zusammen mit der hübschen jungen Frau von der Rezeption erlebt er bei der Weihnachtsfeier sogar einen Moment ekstatischen Glücks. Pech nur, dass er allein den Eingang des Zimmers sehen und hindurchtreten kann.

Das alles wird erzählt in klaren, einfachen, aber niemals trivialen Sätzen. Aus akribisch geschilderten Details setzt sich das Bild eines beliebigen Großraumbüros zusammen, ein Ort der öden Verrichtungen, der kleinlichen Geplänkel und Reibereien. Nach etwa dreißig Seiten meint man nicht nur, man könne dem Protagonisten die Diagnose stellen, Zwangsneurose mit autistischen Zügen und psychotischen Tendenzen etwa, sondern man befürchtet,  die Geschichte könne sich so fortsetzen und selbst die gerade mal 173 großzügig  bedruckten Seiten seien womöglich noch zu lang.

Doch dann kommt plötzlich Dynamik auf. Dass ihr Kollege Björn immer mal wieder minutenlang weggetreten im Flur an der Wand lehnt, verunsichert die Kollegen und bringt sie auf gegen den Außenseiter. Ihr Widerstand verstärkt sich, als sie vom verborgenen Zimmer erfahren. Der Fall schein klar, siehe obige Diagnose. Doch dann schnappt sich Björn, ermüdet von den Idiotenjobs, mit denen man ihn beschäftigt, eine Akte seines Tischnachbarn, nimmt sie mit in das Zimmer und formuliert den gewünschten ‘Rahmenbeschluss’. Das gelingt ihm überraschend gut, und schon steht der vermeintliche Versager als Bürostar da.

Allmählich wird dem Leser klar, dass er ein kleines Juwel in Händen hält, eine Geschichte voller Überraschungen, Wendungen und Spiegelungen. Denn so wie Björns Arbeitsrealität sich in der Vollkommenheitsutopie des Zimmers spiegelt, spiegelt sich in der Trostlosigkeit des Büros auch etwas Allgemeineres. So heißt es an einer Stelle: “Mehr Menschen sollten lernen, ihre schlechten Seiten zu sehen. Das Schlechte ist uns allen gemeinsam. Wie heißt es so schön in Ekelöfs Gedicht: ‘Was das Seichte in Dir, ist auch das Seichte bei anderen.” Man denkt an Kafka und Beckett, und wenn erörtert wird, ob das Zimmer, das Björn sieht, aber die anderen nicht, vielleicht doch ‘ein bisschen’ vorhanden ist, kommt einem unwillkürlich Schrödingers bedauernswerte Katze in den Sinn, die gleichzeitig tot und lebendig ist. Ein großer kleiner Roman.

Jonas Karlsson
Das Zimmer, Roman

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Luchterhand 2016

Jonas Karlsson bei Amazon

Aravind Adiga – Der Weisse Tiger

Wer beim Lesen des Titels an Fritz Langs Abenteuerklassiker Der Tiger von Eschnapur denken sollte, liegt falsch. Mit der idealisierten Maharadschapracht des Films und den Klischees von Sadhu-Mystizismus, Goa-Freizügigkeit und Taj-Mahal-Romantik, die in den Köpfen so mancher Indientouristen spuken mögen, hat das Buch nichts gemein. Was Adiga in seinem erstaunlichen Erstling auftischt, ist harte Kost.

Der Weisse Tiger ist ein Briefroman. Genauer gesagt, er besteht aus einem einzigen langen Brief, den Balram Halwai an den Ministerpräsidenten Chinas ‘in Peking, der Hauptstadt der freiheitsliebenden Nation China’ in mehreren Nächten verfasst. Anlass ist der geplante Besuch des Ministerpräsidenten in Indien.  Bei der Gelegenheit dürfte die indische Regierung das Land als aufstrebende asiatische Fortschrittsnation präsentieren, als leuchtendes Beispiel des freien Wirkens von Kapital und Wissen. Alles Lügen, findet Balram. Er fühlt sich als erfolgreicher Taxiunternehmer berufen, dem hohen Besuch reinen Wein über das indische Unternehmertum  einzuschenken und ihm den ein oder anderen Tipp mitzugeben. Im Folgenden erzählt er seine haarsträubende Gesichte, mit dreistem Sendungsbewusstsein, derbem Humor und einem schonungslosen Blick auf die finsteren Seiten des Landes.

Geboren im kleinen Dorf Laxmangarh, sind seine Aussichten alles anderes als rosig. Die Eltern haben keine Zeit, ihm einen Namen zu geben, deshalb ist er Munna, der Junge. In der Schule gibt es nicht viel zu lernen; der Lehrer schläft tagsüber seinen Rausch aus, die Schuluniformen und Lehrmaterialien verkauft er, weil das Gehalt ausbleibt. Da ist die Anstellung im Teehaus als Kohlenknacker schon ein echter Karrieresprung. Ganz nebenbei erhält er beim Stimmenkauf  für die nächste Wahl auch seinen Namen, denn Wähler brauchen einen, ob gekauft oder nicht. Aber Balram will sich mit dem vorgezeichneten Weg nicht zufriedengeben. Er wird Fahrer  und landet mit seinem Herrn in Delhi – von der Finsternis ins Licht. Aber dieses Licht wirft harte Schatten. Unter jeder luxuriösen Wohnanlage für die Reichen gibt es einen fensterlosen Keller, die Behausung der Bediensteten,  in der es Kakerlaken von der Decke regnet. Und hinter jeder prachtvollen Shopping-Mall liegt ein schäbiger Markt für die Armen. Wenn Balram seinen Herrn beim Abheben von Bestechungsgeld von Geldautomat zu Geldautomat und mit seiner attraktiven New Yorker Frau durchs Nachtleben der Stadt kutschiert, werden beide Welten, die der Herren und die der Diener, in krassen Bildern ausgeleuchtet. Manche dieser Bilder brennen sich unvergesslich ein: die Mutter auf dem zu kleinen Arme-Leute-Scheiterhaufen am Ganges, die einfach nicht verbrennen will; der verletzte Hund, der sich wie rasend im Kreis dreht, weil er vergeblich nach der offenen Wunde in seiner Flanke schnappt; die Obdachlosen, die auf dem Bürgersteig wohnen; die roten Paanflecken, die auf den Boden gespuckt werden. Aber die Diener mucken nicht auf, denn sie haben ihre Rolle verinnerlicht, Sie sind wie die Hühner in den gestapelten Käfigen auf dem Markt, die lethargisch zusehen, wie ihre Leidgenossen geschlachtet und ausgenommen werden. Der Hühnerkäfig ist Adigas Sinnbild für ein Indien geprägt von Korruption, Unwissenheit, Aberglaube, Dreck und Gewalt.

Balram aber will anders sein. Er ist der weiße Tiger, entschlossen, aus seinem Käfig auszubrechen. Er ist der unerbittliche Beobachter, der amoralische Freiheitskämpfer in eigener Sache. Um sein Ziel zu erreichen, ist ihm kein Preis zu hoch, und wenn es sein muss, opfert er sogar seine siebzehnköpfige Familie. Am Ende gleicht der Diener seinem verhassten Herrn. Erst ganz zum Schluss dieses flott erzählten, bitterbösen Schelmenromans, endlich Chef seines eigenen Taxiunternehmes und stolzer Besitzer gleich dreier Kronleuchter, beschließt Balram, es besser zu machen, ein bisschen jedenfalls. Deshalb zahlt er der Familie des überfahrenen Radfahrers freiwillig eine Entschädigung, nachdem die bestochene Polizei die Anzeige abgewimmelt hat. Mehr Läuterung wäre zum Schluss auch unglaubwürdig gewesen.  Balrams Geschichte ist leider alles andere als das.

Wer sich für das ungeschminkte  Indien interessiert, dem seien noch zwei weitere großartige Bücher empfohlen: Das Gleichgewicht der Welt von Rohinton Mistry und Bombay: Maximum City von Suketu Mehta.

Aravind Adiga
Der Weisse Tiger, Roman

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

C. H. Beck 2017

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