Andrew Wilson – Schöner Schatten: Patricia Highsmith

Patricia Highsmith, geboren 1921 in Texas und gestorben 1995 in der Schweiz, war ebenso vielschichtig, rätselhaft und widersprüchlich wie ihre Figuren, diese tragischen Antihelden, die sich in Schuld und Fantasien von Liebe verstricken, deren Gewissheiten sich auflösen, bei denen Realität und Fantasien ineinanderfließen, deren Identitäten zerbrechen und changieren und denen die Moral abhanden kommt. Für ihren amerikanischen Verleger war sie die grässlichste Person, die er kannte, verschlossen, unzugänglich, gemein und böse. Andere undefinedlobten ihren Charme, ihre unverstellte Natürlichkeit und Hilfsbereitschaft. Offenbar vermochte sie gerade in jungen Jahren Menschen für sich zu gewinnen, davon zeugt eine lange Reihe von Geliebten. Schon früh wurde ihr klar, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlte, und seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr lebte sie diese Neigung aus. Das hinderte sie freilich nicht daran, sich noch mit fünfundzwanzig, verlobt mit einem männlichen Schriftstellerkollegen, den sie bei einem Arbeitsstipendium kennengelernt hatte, in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, um ihre ‘widernatürliche’ sexuelle Orientierung zu überwinden. Die Verlobung wurde gelöst, die ‘Therapie’ abgebrochen, doch ihre eigene Identität blieb umkämpftes Terrain. Ihr Leben lang litt sie unter langen Phasen der Depression, in denen sie fürchtete, verrückt zu werden. Ihre Beziehungen zeigten ein wiederkehrendes Muster: manische Verliebtheit zu Beginn, dann ein Ende in Schrecken, voller Hass und masochistischer Selbstzerfleischung.

Verlässliches Glück fand sie nur in der Arbeit und verfasste neben zahlreichen Story-Bänden zweiundzwanzig Romane, von denen fünf von Tom Ripley handeln, ihrer Lieblingsfigur, die sie als eine Art Ebenbild betrachtete. Der Erfolg stellte sich früh ein. Nachdem sie ihren ersten Roman Carol wegen seiner lesbischen Thematik noch unter Pseudonym veröffentlicht hatte, wurde ihr zweiter, Zwei Fremde im Zug,  bereits von Hitchcock verfilmt, was ihrer literarischen Karriere enormen Schub verlieh. Bloß in Amerika fremdelte das Publikum. Den größten Erfolg hatte sie in Europa, woran Daniel Keel vom Diogenes Verlag besonderen Anteil hatte.  Der Grund mag sein, dass ihr Werk, das sich der Einordnung in Genrekategorien entzieht, nicht nur ihr zerrissenes, fragmentiertes Inneres widerspiegelt, sondern auf einer allgemeineren Ebene die schmerzhaften Randeffekte von Individualisierung und moralischem Wandel thematisiert. Wohl keiner hat die Heuchelei, die sich unter der dünnen Decke der so genannten Normalität verbirgt, so hellsichtig aufgespießt wie Highsmith, und dafür war man in Europa möglicherweise empfänglicher als im konservativeren Amerika.

Basierend auf Highsmiths umfangreichen Tagebüchern, ihrem Briefwechsel sowie zahlreichen Interviews mit Lebensgefährtinnen, Freunden und Feinden  hat Andrew Wilson einen faszinierenden Führer durch ihr wildbewegtes Leben und ihr psychologisch komplexes, das Thrillergenre sprengende Werk verfasst. Seine Biographie ist so faktenreich wie ein kleines Lexikon und so spannend wie ein Roman, wenn man nicht gerade ein Werk von Highsmith zum Vergleich heranzieht. Nach der Lektüre meint man, sie zu kennen wie eine gute alte Freundin, und entsprechend groß ist die Trauer am Ende des Buchs, denn wie jede Biographie endet es nun mal mit dem Tod. Näher aber kann man Highsmith wohl kaum kommen, und deshalb sei Wilsons Biographie jedem empfohlen, dem sie mit ihren verstörenden Büchern schlaflose Nächte bereitet hat.

Andrew Wilson
Schöner Schatten: Patricia Highsmith

Berlin Verlag 2003

Patricia Highsmith bei Amazon

Voosen/Danielsson – Der rote Raum

Der rote Raum ist der neunte Band der bislang zehn Bände umfassenden Krimi-Reihe um die schwedischen Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss. verfasst vom Autoren-Duo Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson. In einem teuren Wohnturm in Växjö wird ein Toter mit einer Kugel im Kopf gefunden. Sein Brustkorb wurde geöffnet, das Herz entnommen und stattdessen ein kleiner Mondmeteorit hineingelegt. Das Opfer, ein zurückgezogen lebender Informatiker, Überlebender des erweiterten Suizids seiner Eltern, war ein schwer traumatisierter Mann, der mit Echsen besser auszukommen schien als mit Menschen, weshalb sich weit und breit kein Tatverdächtiger mit plausiblem Motiv auffinden lässt. Dieser Fall gibt der ermittelnden Ingrid Nyström eine harte Nuss zu knacken. Zeitgleich erweist sich ein vermeintlicher Arbeitsunfall in Kiruna als Mord, und auch hier wurde ein Organ entnommen, diesmal die Leber. Beide  Fälle werden getrennt untersucht, letzterer von Stina Forss, die vor einem Locked-Room-Rätsel steht. Und dann gibt gibt es noch einen dritten Erzählstrang: Zwei Junge Männer reisen auf Vespa-Rollern von Schweden nach Griechenland, scheinbar ein harmloser Urlaub angehender Studenten. Wie das wohl zusammenhängt?

Alle drei Erzählstränge erscheinen angemessen disparat und machen Lust auf eine wendungsreiche Auflösung, aber die schleppt sich dahin. Die beiden Kommissarinnen bleiben merkwürdig blass, was insbesondere bei Nyström verwundert, trägt sie doch nicht nur Augenklappe, sondern auch ein schweres Paket Schuldgefühle, weil sie im vorigen Band den Mörder der Partnerin ihrer Schwiegertochter im Beisein ihrer Kollegen in Selbstjustiz erschossen hat. Den Kollegen hingegen kommt man schon näher, vielleicht weil es zwischen ihnen und der jungen Teamergänzung Sara Hjalmarsson so schön menschelt. Während die alten Männer sich zum Gockel machen, bringt Hjalmarsson, auf der Schule wegen ihrer Legasthenie und ihrer Oberweite Sexy Lexie genannt, den Fall des Echsen-Manns schließlich entscheidend weiter.

Es ist schon ein bisschen seltsam, dass die Nebenfiguren farbiger rüberkommen als die beiden Kommissarinnen. Vielleicht liegt es auch an der glanzlosen, aber wortreichen Sprache, dass sich die Lektüre über weite Strecken mächtig zieht. Dazu trägt auch der ausgeprägte Hang der Autoren zur Internetrecherche bei. Ob das Tunen von Vespas, schwedischer Hip-Hop, der rote Raum (hier ein Chatraum im Darknet, so viel sei verraten) in Malerei, Literatur, Populärkultur und so weiter, alles wird breitgetreten, als gelte es die Liste, die Google ausgespuckt hat, lückenlos abzuhaken. Da wäre weniger manchmal mehr gewesen.

Beginnt man eine unbekannte Krimi-Reihe, steht die Hoffnung im Raum, auf vielbändigen fesselnden Lesestoff zu stoßen. Diese Erwartung kann die Reihe um Nyström und Forss trotz des durchaus packenden Finales leider nicht erfüllen. Der rote Raum ist ein solider Krimi, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Der rote Raum / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.9 von Roman Voosen; Kerstin  Signe Danielsson als Taschenbuch - Portofrei bei bücher.de

Voosen/ Danielsson
Der rote Raum

Kiepenheuer & Witsch 2021

Voosen/Danielsson bei Amazon

Jennifer Egan – Candy Haus

Der Umschlag ist bunt, Candy Haus steht drauf, und wie ein Haus aus oder voller buntem Candy ist tatsächlich der Roman. Jedes Kapitel ist anders. Die klassische Kurzgeschichte kommt vor, die auktoriale und die Ich-Erzählung, innerer Monolog in Aphorismenform, E-Mail-Kommunikation, Abschweifung und Verdichtung, Verrätseltes und Erhellendes, Triviales und Raffiniertes, Berührendes und Forderndes, Vergangenheit (angefangen bei der Hippiezeit) über die Gegenwart bis zur Zukunft (2035).

An Anfang und Ende des Romans steht Bix Bouton, der Gründer und Erfinder von Mandala, einem Social-Media-Konzern, der nicht zufällig Ähnlichkeiten mit Zuckerburgs Meta und Facebook aufweist.  Reich, erfolgreich und glücklich verheiratet, befindet er sich mitten in einer Lebenskrise: Was soll jetzt noch kommen?  Die Erkenntnis überfällt ihn als Vision, als er sich an den Tod seines Jugendfreundes Rob erinnert: Hätte er den Ertrinkenden vielleicht retten können? Daraus wird ‘Besitze dein Unbewusstes’, das es den Nutzern erlaubt, eigene und fremde Erinnerungen nachzuerleben. Mandala ermöglicht es seinen Kunden, ihr Bewusstsein in einen kleinen Kubus hochzuladen und es online zu teilen, eine Fortschreibung der Social Media, wie wir sie kennen, und eine neue Form des Streamings. Die ‘Zählenden’, qualifizierte Autisten, ‘algebrasieren’ den Datenfundus und machen ihn nutzbar, Cyborg-Duplikate, so genannte Proxys, agieren als Stellvertreter ihrer Originale, die Renegaten verweigern sich der Vergesellschaftung des Persönlichen, und es wird Missbrauch betrieben mit ‘Asseln’, welche die Regierung ihren Soldaten und Agenten zum Zweck der Überwachung in den Kopf einpflanzt und die auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden, zu welchen Zwecken auch immer. Im Zentrum aber steht der gealterte Bennie Zalazar, Egan-Lesern bereits aus ihrem Roman Der grössere Teil der Welt bekannt, zu Beginn cleverer Profiteur der disruptiven Technik des Musikstreamings, jetzt Opfer einer neuen Form des Streamings. Um ihn gruppiert sich ein Mikrokosmos von Figuren, hart gegeneinander geschnittene Lebensgeschichten, kunstvoll verdichtet zu  Episoden, die häufig von einem Wendepunkt erzählen wie die Eingangsgeschichte von Bix und in denen sich das heutige medial verwobene Leben wie in den Zerrspiegeln  von Kirmesbuden spiegelt, mal grotesk verzerrt, mal auf den Kern reduziert, beziehungsweise auf den Punkt gebracht und immer, ungeachtet der Form, lebensprall. Dieser Roman setzt die Synapsen unter Strom. Irgendwie stelle ich mir so New York vor: schnell und laut, intensiv und und in ein spezielles Licht getaucht, das die Details hervortreten lässt.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass der erzählerische Fokus seine Grenzen hat. Manche Dinge wie Proxys oder die Widerstandsbewegung der Renegaten werden nur angedeutet, die gesamtgesellschaftlichen Folgen des Bewusstseinsstreamings wie dessen technische Umsetzung bleiben verschwommen. Candy Haus ist, trotz vieler Science-Fiction-Elemente, kein  SF-Roman und auch nicht gerade das, was man eine ‘runde Sache’ nennt. Egans Fähigkeit, uns Leser ungeachtet der episodischen Erzählform mit wenigen Sätzen quasi überfallartig mitten ins Leben einer Person zu versetzen und und unsere Anteilnahme zu wecken, macht die Lektüre dennoch zu einer faszinierenden Erfahrung.

Candy HausJennifer Egan
Candy Haus (The Candy House)

Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens

S. Fischer 2022

Jennifer Egan bei Amazon

Avatar – Der Weg des Wassers

Der Kinobesuch gestaltete sich als kleines Survival-Abenteuer. Zunächst mal galt es den fünfunddreißigminütigen Werbeblock zu überstehen, auf die Überlängenwarnung folgte eine zehnminütige Pinkelpause, und dann passierte erst mal gar nichts – offenbar war die digitale Projektionsanlage abgestürzt. Erst eine geschlagene Stunde nach Betreten des Kinosaals startete endlich der Film.

Mit (k)einer Überraschung: Avatar 2 ist irgendwie Avatar 1, wie gehabt mit Esoterikkitsch inklusive Wunderbaum, schwebenden Felsen, peinlichen Dialogen und einer anachronistisch anmutenden Na’vi-Version der amerikanischen Sechzigerjahre-Familie („Yes, Sir!“). Im Kern ist es eine Indianergeschichte, wie sie auch Karl May hätte schreiben können. Die Kritik zu Avatar 2: The Way Of Water: Abtauchen und Staunen - FILMSTARTS.debösen Landräuber von der Erde kommen zurück nach Pandora, und der oberböse Colonel Quaritch, als Avatar reinkarniert, hat mit Jake Sully, inzwischen ebenfalls Vollzeit-Avatar, mehrfacher Familienvater und Anführer der Wald-Na’vi, noch ein Hühnchen zu rupfen. In der Folge werden die Sully-Kinder entführt, befreit und wieder entführt, bis es schließlich zur finalen Ballerei mit Showdown kommt. Die Story ist so dünn wie der Film lang ist (193 Minuten) und erhebt kaum Anspruch auf Eigenständigkeit, was durch die zahlreichen akustischen und visuellen Anklänge an Alien, Star Wars und Titanic noch einmal unterstrichen wird. Die Referenzen sind jedoch rein oberflächlich; dem Film mangelt es bedauerlicherweise an der Spannung von Alien und dem emotionalen Erzählbogen des Titanic-Films, und immer wieder stören Albernheiten wie die Kommunikation mit dem Fisch: “Und was macht dein Baby?” Die plakative Spiegelung der irdischen Umweltproblematik ins Science-Fiction-Genre entfaltet so keine Wirkung. Das aber ist nur die eine Seite.

Die andere Seite zeigt sich vor allem im Mittelteil des Films und hat die Qualität einer filmischen Offenbarung. Die erste Hälfte davon spielt im Wald, die zweite am und vor allem im Meer. Zu besichtigen ist eine bis in den einzelnen Grashalm, jede Hautpore und jedes Seeanemonenfädchen hinein realistisch anmutende Welt. James Cameron gelingt hier eine fantastische Symbiose von Filmtechnik und Ästhetik. Durch das weiter perfektionierte Motion-Capture-Verfahren als Grundlage der Digitalisierung gewinnen die Na’vi eine umwerfende Präsenz. Eine solch grandiose Verschmelzung von Realfilmbildern und CGI hat man noch nicht gesehen. Einen Anteil daran hat auch neue Kinotechnik, nämlich das Cinity-System mit Laserprojektoren, 4k-Auflösung, HFR-Technik (einer gegenüber den üblichen 24 Bildern pro Sekunde erhöhten Framerate) und 30 Prozent mehr Helligkeit. Godard, der seinerzeit verkündete, Kino sei ‘24 Mal Wahrheit in der Sekunde’, dreht sich vermutlich im Grabe um, doch die Wirkung ist bestechend. Mehr Immersion geht kaum. Die 3-D-Technik beweist hier endlich ihre Daseinsberechtigung über das Spektakel hinaus und verleiht dem Film einen wahren Mehrwert. So entstehen immer wieder betörende und berührende Momente, so wie bei der Meeresbestattung des Sully-Jungen, der in ein Anemonenfeld aufgenommen wird,  beim Träumen eines Na’vi-Mädchens im Gras oder wenn es im Kinosaal regnet. Genau diese Momente nimmt man aus dem Film mit. Das Fazit ist folglich gemischt: Avatar 2 ist eine großartige visuelle Erfahrung, aber leider kein großer Film.

Avatar – Der Weg des Wassers

Regie: James Cameron, 2022

Trailer

Für immer Adaline – Zur Unsterblichkeit verdammt

Nach News gesucht, bei Film hängengeblieben und plötzlich gebannt, obwohl auf den ersten Blick alles nach belangloser Schmonzette aussieht. Es heißt ja, alle guten Geschichten seien bereits erzählt und würden nur noch nacherzählt, beziehungsweise variiert und rekombiniert. Das gilt insbesondere für Geschichten über potenziell Unsterbliche wie etwa Melmoth der  Wanderer in dem Roman von Charles Robert Maturin, der Highlander aus dem gleichnamigen Film von Russell Mulcahy oder auch der Gerichtsmediziner Henry H. Morgan aus der Fernsehserie Forever, ganz zu schweigen von den vielen Unsterblichen auf Zeit, die in murmeltiertaghaften Zeitschleifen gefangen sind und denen sich die Wiederkehr des Immergleichen zu einer mehr oder weniger langen Ewigkeit dehnt. Je nach Veranlagung leben sie den Traum von zügellosem Hedonismus und maßlosem Reichtum, häufen Wissen an oder machen sich nützlich. Meist probieren sie unterschiedliche Lebensentwürfe aus, mal erfolgreich, mal scheiternd, und verzweifeln regelmäßig an ihrer Einsamkeit und Langeweile.

Auch die Geschichte der 1908 geborenen Adaline Bowman (Blake Lively) gehört zu diesem Genre. Mit ihrem Ehemann, einem Ingenieur, der am Bau der Golden Gate Bridge beteiligt ist, hat sie eine Tochter. Kurz nachdem er tödlich verunglückt, kommt sie mit dem Wagen von der Straße ab und stürzt in einen eiskalten Fluss. Ein Blitz erweckt sie aus ihrer katatonischen Starre, und fortan altert sie nicht mehr. Die pseudowissenschaftliche Erklärung des Phänomens kann man getrost vergessen. Adaline versucht ihr Leben zunächst fortzuführen wie bisher, doch als das FBI sich für sie zu interessieren beginnt, flieht sie und wechselt fortan alle zehn Jahre Identität und Wohnsitz. Traumatisch ist der Verzicht auf ihre zweite große Liebe in den siebziger Jahren,  Von emotionalen Verstrickungen hält sie sich fern, allein zu ihrer alternden Tochter hält sie Kontakt. Anstatt zu verzweifeln, kultiviert sie einen gefassten Fatalismus, lernt Sprachen, liest viel und bestreitet ihren Lebensunterhalt mit normalen Jobs. Erst im Alter von 107 Jahren wagt sie es, sich erneut zu verlieben – und begegnet kurz darauf ihrer gealterten Jugendliebe, was sie vor neue harte Entscheidungen stellt. So weit, so unspektakulär.

Doch Lively gelingt es, die Figur der Adaline unaufdringlich, subtil und überzeugend mit einer Tiefe auszustatten, die ihr wahres Alter immer wieder durchscheinen lassen. Die Wirkung des Film verdankt sich aber vor allem der unaufgeregten Ernsthaftigkeit, mit der er Adaline durch ihr langes Leben folgt. Hier ist weniger mal wieder mehr. Krieger, der Regisseur, lässt das alte Thema in neuem Licht erscheinen. So hat man das Gefühl, diese  Geschichte von der Unsterblichkeit werde zum allerersten Mal erzählt, was den Film zu einer berührenden Erfahrung macht. Dass Harrison Ford als alte Liebe auftritt, ist dabei ein Extra-Schmankerl.

Für Immer Adaline - Film streamen | Sky Store

Für immer Adaline (The Age of Adaline)

Regie: Lee Toland Krieger, 2015

Amazon

Trailer

John le Carré – Silverview

Eine junge Frau, Lily, überbringt jn London einen Brief ihrer todkranken Mutter Deborah an Proctor, den Chef des britischen Geheimdienstes. ‘In einem kleinen Küstenstädtchen irgendwo an den äußeren Gestaden von East Anglia’ bekommt Julian, Ex-Broker und seit kurzem stolzer, wenn auch nicht unbedingt kenntnisreicher Besitzer einer Buchhandlung, Besuch von Edward, einem alten Freund seines verstorbenen Vaters. Edward begeistert Julian für den Plan, im Keller seiner Buchhandlung eine ‘literarische Republik’ auszurufen: sechshundert wegweisende Bücher an einem Ort versammelt. Sein besonderes Interesse gilt freilich den Computern, die es für das Projekt anzuschaffen gilt …

Damit ist das Spiel eröffnet. Le Carré beschwört das klassische Inventar des Spionagethrillers herauf, inklusive Codenamen, schillernder Agentenführer, konspirativer Treffen und einer Begegnung in Englands supergeheimen Atomwaffenbunkern. Irgendwie geht es wieder mal um alles, doch in die Karten schauen lässt er uns nicht. So erfahren wir nie, was in dem Brief stand, den Deborah durch ihre Tochter übermitteln lässt. Auch viele andere Details bleiben im Dunkeln.  Das geheimdienstliche Treiben schildert le Carré mit ironischer Distanz. Mehr zu interessieren scheinen ihnen die ‘höflichen Sprachknäuel’, mit denen seine Figuren einander umtanzen, und die nicht minder verschlungenen Biographien, in denen sie gefangen sind.

Silverview ist le Carrés Alterswerk, erschienen erst nach seinem Tod im Jahr 2020. Und es ist ein augenzwinkernder Abschied von der obskuren Nebenwelt, um die sein gesamtes literarisches Werk kreist und die er nun zurückzulassen scheint. Der Alte gibt die Stafette gewissermaßen an die Jungen ab, verkörpert durch Lily und Julian, die sich um die Regeln des Geheimdienstes ebenso wenig scheren wie der Autor um die einst ehernen Regeln des Spionageromans. Dabei bleibt er sich selbst doch treu und feiert die Literatur in kunstvoll verschlungenen Dialogen und einer Sprache, die keinen Umweg scheut. In einer Zeit, da so mancher Autor bereits bei Verwendung des Semikolons Rechtfertigungsdruck verspürt, wirkt das wundervoll subversiv.

John le Carré war ein großer Autor, und ich persönlich bedaure, dass  ich ihn nach ‘Der Spion, der aus der Kälte kam’, mit dem er 1963 den literarischen Durchbruch schaffte, aus dem Blick verloren habe. Es gibt viel nachzuholen.

John le CarréSilverview : Le Carre, John: Amazon.de: Bücher
Silverview (Silverview)

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Ullstein 2021

John le Carré bei Amazon

Hilary Mantel – Brüder

Mantels 1100-Seiten-Roman Brüder  (A Place of Greater Safety),  bereits in den Siebzigerjahren begonnen und erst 1992 auf Englisch und auf Deutsch erschienen, erzählt die Geschichte der Französischen Revolution. Nun ist es ja so eine Sache mit historischen Romanen: Sie malen die bisweilen trockene Wahrheit der Geschichtsbücher in lebendigen Farben und nachempfundenen Szenen aus, die man, wenn das Unternehmen glückt, für die Wirklichkeit nimmt. Dass sich dabei Ausgedachtes mit Belegtem mischt, geht da bisweilen unter. Dieses Dilemmas ist sich auch die Autorin wohl bewusst und spricht es im Vorwort deutlich an – um es gleich darauf mit ihrer Erzählkunst vergessen zu machen.

Drei Personen stehen im Zentrum des Romans; Camille Desmoulins, Georges Danton und Maximilien de Robespierre. Sie sind die drei titelgebenden Brüder im Geiste. Alle drei stammen aus der Provinz, absolvieren eine Anwaltsausbildung und nehmen in der Revolution eine herausragende Stellung ein.

Demoulins, ein stotternder, aufmüpfiger Junge mit herausragender Intelligenz, wird von den Eltern auf ein Pariser Internat geschickt, wo er sich mit Robespierre anfreundet und durch die Literatur der Aufklärung (Rousseau) in seiner monarchiekritischen Haltung bestärkt wird. Später wird er zum scharfzüngigen Herausgeber von Zeitungen und Autor aufrührerischer Pamphlete.  Er ist es, der die hungernde, zornige Menge 1789 zum Sturm auf die Bastille anfeuert. Zusammen mit Danton und Robespierre leitet er den Tuileriensturm und das Septembermassaker von 1792 in die Wege, dem mehr als tausend angebliche Royalisten und Verschwörer zum Opfer fallen. Der auch heute wieder besonders in rechten Kreisen beliebte Volkswille, Rousseaus  naive Fiktion einer einheitlichen Gemeinschaft, die alle gesellschaftlichen Widersprüche in sich auflöst, zeigt hier erstmals seine blutige Fratze. Die drei Brüder stehen hier noch eng beisammen; Camille, der wilde Theoretiker und Schreiber; Danton, der Mann, der die umstürzenden Verhältnisse auch als Gelegenheit ansieht, sich zu bereichern und seiner Lebenslust zu frönen; und der anfangs so rechtschaffene, idealistische Robespierre, der mit seinem Wohlfahrtsausschuss zum Inquisitor mutiert. Der Terror wird zu Staatspolitik erhoben, die Revolution frisst ihre Kinder. Es entwickelt sich eine Eigendynamik, die aus Antreibern Getriebene macht und alle Ideale, auch das hehre Revolutionsmotto Liberté, Égalité, Fraternité, in ihr Gegenteil verkehrt. Jeder beargwöhnt jeden, Verschwörungen werden aufgedeckt und erfunden, mit demagogischen Reden vor dem Volkskonvent suchen die Fraktionen Unterstützer, um den Gegner zu eliminieren, und das heißt, ihn der Guillotine zu überantworten. Camille bekommt kalte Füße und versucht zusammen mit Danton den Terror zu beenden, doch da ist es bereits zu spät. Die Institutionen sind zerschlagen, Recht und Gesetz zur Farce geworden. Das Biest der Revolution duldet keinen Reiter mehr.

Mantel zeichnet diese Entwicklung bis zum Jahr 1794 als vielstimmiges Wimmelbild, mit ausgedehnten, nuancenreichen Dialogen voller Witz, die zeitverbunden wirken, aber niemals historisierend, sondern quicklebendig. Der Fokus liegt auf der Lebenswirklichkeit der großen und kleinen Protagonisten. Lucile, Camilles scharfsichtige Ehefrau, kommentiert Ehe, Politik und Revolutionsmode, der Henker beklagt sich über seine Arbeitsbelastung, Marie Antoinette sieht im Kerker der Hinrichtung entgegen, de Sade räsoniert über wahrgewordene Blutfantasien, Camilles Vater schämt sich für seinen missratenen Sohn, die Politiker intrigieren, was das Zeug hält. Wie das Brechtsche epische Theater bricht Mantel immer wieder den Erzählstrom, lässt Zitate aus Dokumenten, Zeitungen und Reden einfließen, macht Anmerkungen zu Brotpreis und Tagelöhnersold, als wollte sie den Leser daran erinnern, dass alles Fleisch auf dem Gerippe der Fakten Fiktion ist.

Bei all den politischen Gruppierungen, den Hébertisten, Sansculotten, Cordeliers, Girondisten und so weiter kann man schon mal den Überblick verlieren und wünscht sich, die großen Linien , so es sie denn gibt, träten deutlicher hervor, die erste ausgearbeitete Verfassung würde stärker gewürdigt und Frankreichs Krieg mit den Kontinentalmächten ein wenig ausführlicher geschildert, doch das ist Erbsenpickerei. Mantels Roman Brüder  ist eine faszinierende Lektüre mit historischem Erkenntniszugewinn und macht mächtig Lust auf ihre vielgerühmte Chromwell-Trilogie.

Hilary Mantel
Brüder (A Place of Greater Safety)

Aus dem Englischen von Kathrin Rhazum und Sabine Roth

Dumont 2012

Hilary Mantel bei Amazon

Dune – mit Maus und Wurm

Als David Lynch 1984 seine Dune-Version ins Kino brachte, war die Enttäuschung groß; zu gewaltig das Panorama, das Frank Herbert in der Buchvorlage ausmalt,  und zu wackelig die Filmkulissen, zu krude die Effekte und vor allem zu klein der Sandkastenwurm, der das Finale bestreiten musste.

Frank Herberts Dune erschien unter dem Titel Der Wüstenplanet erstmals 1967 auf Deutsch, fünf Folgebände kamen hinterher. Für viele, auch für mich, war dies eines der großen  SF-Leseerlebnisse. Die Handlung spielt in ferner Zukunft und setzt 10290 Jahre nach Gründung der Raumfahrergilde ein. Tausende von Menschen besiedelte Planeten sind über die ganze Galaxis verteilt. Beherrscht werden sie von den Häusern, auf Erbfolge beruhenden Familien, und über allen thront der Imperator. Ein großer Dschihad hat die Computer und künstlichen Intelligenzen ausradiert. Allein mit Hilfe der psychotropen Droge Spice sind die Raumfahrer in der Lage, ihre Schiffe mit Überlichtgeschwindigkeit durch den Hyperraum zu manövrieren.  Der Imperator entzieht nun dem Haus Harkonnen das Lehen für den Wüstenplaneten Arrakis und bestimmt das Haus Atreides zu dessen neuem Herrscher – eine bedeutsame Entscheidung, da dort das Spice gewonnen wird. Also steht ein Umzug an. Die Familie Atreides fliegt nach Arrakis. Um das Wüstenvolk der Femen zur Zusammenarbeit zu bewegen, wurde das Gerücht gestreut, Paul, der Sohn des Herzogs, sei der neue Mahdi oder Messias. Das könnte sogar etwas dran sein, denn Paul hat Wahrträume, und im Hintergrund zieht seine Mutter die Strippen. Sie gehört dem Nonnenorden der Bene Gesserit an, der mit allerlei okkulten Ritualen und Psychotricks seine eigenen Ziele verfolgt.

Ökologie, Ressourcenknappheit, Kolonialismus, Personenkult, Dschihadismus, antiwissenschaftliche Maschinenstürmerei, Esoterik und Mystizismus – viele der Themen, die Frank Herbert anspricht, sind heute aktueller denn je. Und Villeneuve ist ein wundervoller Regisseur. Deshalb stimmt bei ihm vieles, zum Beispiel das Verhältnis zwischen Groß und Klein, also den Weltraum- und Planetenszenen auf der einen und den eindrucksvoll inszenierten Dialogen und Details wie dem windbewegten rieselnden Wüstensand oder der putzigen Maus auf einem Dünenkamm auf der anderen Seite.  An CGI-Kapazität herrscht kein Mangel, deshalb erschafft er imposante Landschaften, frappierend realistisch wirkende Libellenflügler und eine Überwältigungsarchitektur, die irgendwo zwischen Mayatempeln und Albert-Speer-Gigantismus angesiedelt ist. Doch den riesigen, meist düsteren Hallen wohnt, um mit Hermann Hesse zu sprechen, ‘kein Zauber inne’, sondern eine große Leere. Die Häuser sind doch reich, wieso statten die Adeligen ihre Betonburgen dann nicht mit Kunstwerken und Luxus aus?  Und um gleich weiter zu fragen: Weshalb sind auch die Raumschiffe so groß und leer? Sind die Aufhebung der Gravitation, Körperschilde und interstellarer Raumflug, Spice hin oder her, ohne Computertechnik überhaupt denkbar? Wovon leben eigentlich die bis zu vierhundert Meter langen Sandwürmer? Und war es wirklich nötig, das durch und durch böse Haus Harkonnen auch noch auf einem verregneten Planeten anzusiedeln?

Es ist, als wollte Hans Zimmer mit seinem dröhnenden Soundtrack diese Fragen schon im Ansatz ersticken. Aus anderer Perspektive aber machte die Akustikattacke durchaus Sinn, kam es mir nach zwei Jahren Corona-Pause doch so vor, als wohnte ich, untermalt von Pauken und Trompeten, dem Untergang des Kinos bei. Dune, vorab zum Post-Corona-Hoffnungsträger der Kinobranche gehypt, vermochte den Saal einen Tag nach der Premiere jedenfalls nicht mal zu einem Drittel zu füllen. Für die einen dürfte der Film zu ‘langsam’ sein, für die anderen zu verschwurbelt. Die größte Katastrophe aber war das Seherlebnis: Das Bild so ungewohnt kontrastarm, die Projektion unscharf, die Sitznachbarn, obwohl auf Abstand platziert, so laut. Der ketzerische Gedanke ging mir durch den Sinn, dass die Immersion vor dem heimischen Fernseher womöglich besser gewesen wäre. Lag es am Realitätsschock nach langer Corona-Enthaltsamkeit? Oder wird das Streamen dem Kino den Garaus machen? Ist Vereinzelung angesagt statt Gemeinschaftserlebnis? Sind wir dazu verdammt, unser TV-Equipment immer weiter hochzurüsten, bis wir real und virtuell nicht mehr unterscheiden können?

Die Zukunft wird es erweisen. 

Dune - Film 2021 - FILMSTARTS.deDune

Regie: Denis Villeneuve 2021

Trailer