Patricia Highsmith, geboren 1921 in Texas und gestorben 1995 in der Schweiz, war ebenso vielschichtig, rätselhaft und widersprüchlich wie ihre Figuren, diese tragischen Antihelden, die sich in Schuld und Fantasien von Liebe verstricken, deren Gewissheiten sich auflösen, bei denen Realität und Fantasien ineinanderfließen, deren Identitäten zerbrechen und changieren und denen die Moral abhanden kommt. Für ihren amerikanischen Verleger war sie die grässlichste Person, die er kannte, verschlossen, unzugänglich, gemein und böse. Andere lobten ihren Charme, ihre unverstellte Natürlichkeit und Hilfsbereitschaft. Offenbar vermochte sie gerade in jungen Jahren Menschen für sich zu gewinnen, davon zeugt eine lange Reihe von Geliebten. Schon früh wurde ihr klar, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlte, und seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr lebte sie diese Neigung aus. Das hinderte sie freilich nicht daran, sich noch mit fünfundzwanzig, verlobt mit einem männlichen Schriftstellerkollegen, den sie bei einem Arbeitsstipendium kennengelernt hatte, in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, um ihre ‘widernatürliche’ sexuelle Orientierung zu überwinden. Die Verlobung wurde gelöst, die ‘Therapie’ abgebrochen, doch ihre eigene Identität blieb umkämpftes Terrain. Ihr Leben lang litt sie unter langen Phasen der Depression, in denen sie fürchtete, verrückt zu werden. Ihre Beziehungen zeigten ein wiederkehrendes Muster: manische Verliebtheit zu Beginn, dann ein Ende in Schrecken, voller Hass und masochistischer Selbstzerfleischung.
Verlässliches Glück fand sie nur in der Arbeit und verfasste neben zahlreichen Story-Bänden zweiundzwanzig Romane, von denen fünf von Tom Ripley handeln, ihrer Lieblingsfigur, die sie als eine Art Ebenbild betrachtete. Der Erfolg stellte sich früh ein. Nachdem sie ihren ersten Roman Carol wegen seiner lesbischen Thematik noch unter Pseudonym veröffentlicht hatte, wurde ihr zweiter, Zwei Fremde im Zug, bereits von Hitchcock verfilmt, was ihrer literarischen Karriere enormen Schub verlieh. Bloß in Amerika fremdelte das Publikum. Den größten Erfolg hatte sie in Europa, woran Daniel Keel vom Diogenes Verlag besonderen Anteil hatte. Der Grund mag sein, dass ihr Werk, das sich der Einordnung in Genrekategorien entzieht, nicht nur ihr zerrissenes, fragmentiertes Inneres widerspiegelt, sondern auf einer allgemeineren Ebene die schmerzhaften Randeffekte von Individualisierung und moralischem Wandel thematisiert. Wohl keiner hat die Heuchelei, die sich unter der dünnen Decke der so genannten Normalität verbirgt, so hellsichtig aufgespießt wie Highsmith, und dafür war man in Europa möglicherweise empfänglicher als im konservativeren Amerika.
Basierend auf Highsmiths umfangreichen Tagebüchern, ihrem Briefwechsel sowie zahlreichen Interviews mit Lebensgefährtinnen, Freunden und Feinden hat Andrew Wilson einen faszinierenden Führer durch ihr wildbewegtes Leben und ihr psychologisch komplexes, das Thrillergenre sprengende Werk verfasst. Seine Biographie ist so faktenreich wie ein kleines Lexikon und so spannend wie ein Roman, wenn man nicht gerade ein Werk von Highsmith zum Vergleich heranzieht. Nach der Lektüre meint man, sie zu kennen wie eine gute alte Freundin, und entsprechend groß ist die Trauer am Ende des Buchs, denn wie jede Biographie endet es nun mal mit dem Tod. Näher aber kann man Highsmith wohl kaum kommen, und deshalb sei Wilsons Biographie jedem empfohlen, dem sie mit ihren verstörenden Büchern schlaflose Nächte bereitet hat.
Andrew Wilson
Schöner Schatten: Patricia Highsmith
Berlin Verlag 2003