Archiv der Kategorie: Politik

2017 – Mein Jahr

Wie das Jahr war? Nun, es gab wenig Schnecken. Im Vorjahr machten die schleimigen Weichtiere jeden Spaziergang zum Slalomlauf (ja, ich weiche Schnecken aus!) und knabberten sich durch die Blumenpracht des Gartens. Dieses Jahr gab es kaum welche – fast war man geneigt, die sporadischen Einzelgänger als Überlebende zu begrüßen. Ebenfalls bemerkenswert, dass die Kapuzinerkresse, die 2016 den Raupen zum Opfer gefallen war, diesmal bis in den Oktober hinein blühen durfte.

Und dann war da Trump. Ich muss gestehen, dass ich ein wenig besessen von ihm war. Seine Tweets, abgefeuert aus dem Zentrum des amerikanischen Wahnsinns, erreichten mich auch ohne eigenen Twitter-Account mit enervierender Regelmäßigkeit. Nach der Inaugurationsrede, mit der er Dampfmaschinenkapitalismus als Zukunftsvision zu verkaufen suchte und die wie eine Drohung an Freund wie Feind rüberkam, gab es einfach kein Entkommen mehr. Meine Fassungslosigkeit darüber, dass ein kompetenzfreies Großmaul amerikanischer Präsident Trumswwerden kann, dass ein rückwärtsgewandter, bauchgesteuerter Populist ohne Respekt vor Verfassung, Demokratie und dem Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge im Weißen Haus eine Clique aus Familienangehörigen, Karrieristen und Jasagern um sich schart, die so manche Oligarchendikatur in den Schatten stellt, erneuerte sich zuverlässig von Mal zu Mal. Die Fernsehnachrichten machten es auch nicht besser; seine Körpersprache und Mimik waren für mich ein rotes Tuch, dagegen kam ich nicht an. Erkenntnisgewinn versprachen zahllose politische Artikel, soziologische Analysen und psychologische Ferndiagnosen. Ich habe viele gelesen. Das meiste erschien mir zutreffend. Aber schlauer bin ich letztlich nicht geworden.

„Meine Unterstützer sind so klug. Das sagen auch die Umfragen. Sie zeigen, dass ich die loyalsten Anhänger habe. Wussten Sie das schon? Ich könnte quasi mitten auf der 5th Avenue stehen und jemanden erschießen, und würde trotzdem keine Wähler verlieren. Okay?! Das ist unglaublich!“

Ja, Mr. President, das ist unglaublich. Man nennt es wohl Vasallentreue. Was müsste geschehen, damit das ihm ergebene Drittel der amerikanischen Bevölkerung von seinem selbstgewählten Führer abfällt? Ich mag es mir nicht vorstellen und nehme Zuflucht bei Bertolt Brecht: Nur die dümmsten Schafe wählen ihre Schlächter selber. Offenbar befindet sich das politische System der USA in einer tiefen Krise. Die unheilvolle Allianz aus evangelikalem Fundamentalismus, einem vom Großkapital finanzierten Wahlkampf und interessengesteuertem Verblödungsfernsehen haben eine Wahrnehmungsblase erzeugt, in der Menschen ihr Fell nicht verkaufen, sondern mit Freuden verschenken, nur weil sie dazu ermuntert werden, die Sau ihrer Ressentiments rauzulassen.

Ich habe die amerikanische Politik nie unkritisch gesehen, aber trotz aller Fehler und Irrtümer war da im Innern immer auch ein Leuchten, das gespeist wurde von den Idealen der amerikanischen Verfassung und das seinen Widerschein fand in der Vitalität der im besten Sinne populären Kultur, der Literatur, der Musik und dem Film. Jetzt ist dieses Leuchten nur noch ein Glimmen. Aber dennoch: Außer dem Auftrieb, den Trump der Satirebranche verschafft hat, scheint er noch etwas anderes Gutes bewirkt zu haben, das zeigt der Ausgang der Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich. Sein Rechtspopulismus ohne Maske kommt in Europa weniger gut an als bei ihm daheim. Vielen und auch mir hat seine America-First-Litanei verstärkt bewusst gemacht, wie wichtig es ist, dass die europäischen Länder politisch und wirtschaftlich mit gemeinsamer Stimme sprechen, denn nur zu gern würden die Trumps dieser Welt uns bilateral in die Mangel nehmen. Dass nach dem Brexit allerorten mit Begeisterung EU-Fähnchen geschwenkt werden, ist auch Pulse of Europe zu verdanken – eine tolle Initiative!

Und weiter mit dem Positiven. Nach Arrival im Vorjahr hat Villeneuve sich mit Blade Runner 2049 erneut als bildmächtiger  Weltenbauer erwiesen, der sich mehr für gedanklichen Hintergrund interessiert als für oberflächliche Action. Das war ein echtes Filmhighlight, von dem ich noch eine Weile zehren werde. Das gleiche gilt für meinen Lanzarote-Urlaub. Die Flugreise ist ja vong Morahl her in manchen Kreisen anrüchig geworden, deshalb wäre es vielleicht opportun, von einer Expedition zu sprechen (cool). Tu ich aber nicht. Viele Jahre lang habe ich mir gewünscht, die schwarzen Strände und die Vulkanlandschaften wie von einem anderen Stern kennenzulernen,  jetzt war es so weit. Und ja, es war eine Luxusreise, aber ich bereue nichts!

Last but not least sind ein paar Veröffentlichungen zu vermelden. Anfang des Jahres ist bei Heyne mein Roman Kolonie erschienen, der das Schicksal der ersten extrasolaren Weltraumkolonisten erzählt, dreißig Jahre nach der Ankunft auf dem Planeten Corazon – eine melancholische Bestandsaufnahme, die letztlich neue Handlungsoptionen eröffnet. Es folgten die Storys UWU XP4 macht den Touring-Test in Spektrum der Wissenschaft und Andrea/s im Erker, wo auch ein längeres Interview mit mir erschienen ist. Für mich eine besondere Freude: Die Neuveröffentlichung meines Romans Der Weg nach unten von 1992.

Rückblick

Alle Fragen offen

Das Jahr endet mit Fragen. Untergangsprophet Oswald Spengler hätte seine helle Freude. Wenn Politclowns und Demagogen die politische Bühne entern und massenhaft Zustimmung finden, springen einen die historischen Analogien förmlich an. Der amerikanische Wahlkampf, seit jeher ein für Europäer kurioses Spektakel, wurde von Mr. You-Are-Fired-Trump vollends zum Schlammcatchen degeneriert. Signore Grillo feiert die zerstörerische Schönheit des Nein. Großbritannien schlingert in eine ungewisse Zukunft, Österreich ist gespalten, Frau Petry rührt mit Madame Le Pen im völkischen Eintopf. Experten gelten neuerdings als Fachidioten, Erfahrung erweist sich als hinderlich, Wissen als verdächtig. Verschwörungstheorien und Fake-News geistern umher. Plebiszite polarisieren auf Biegen und Brechen, Facebook-Schmu ersetzt Journalismus, Bauch regiert Kopf. Postfaktisch ist das Wort des Jahres.

Ich habe in diesem Jahr der bösen Überraschungen ein ganz neues Gefallen am Begriff Anstand gefunden. Vernachlässigte Anliegen, unterrepräsentierte Meinung  – gut und schön. Aber bitte Anstand und Respekt nicht vergessen.  Ein kühler Kopf kann auch nicht schaden. Klingt altmodisch? Ist altmodisch, aber deshalb falsch noch lange nicht.

Wie geht es weiter mit EU, Nato, Nahem Osten, Migration, Werteuniversalismus, globalem Handel, Klima- und Umweltschutz? Zerlegt sich die liberale Demokratie von innen? Ich weiß es nicht, niemand weiß es.  Mein Jahresendgefühl hat Bertolt Brecht vor über 75 Jahren in Der Gute Mensch von Sezuan formuliert: “Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Europaflagge

Das ist die Europaflagge. Ich mag sie, denn ich fühle mich als Europäer. Die EU hat jahrzehntelang all ihren Mitgliedern Frieden und vielen wachsenden Wohlstand gebracht. Nicht die Krisen dieses prekären, unfertigen Zusammenschlusses unterschiedlichster Staaten sind die Nachricht, sondern dass er die Krisen wenn nicht gemeistert, so doch gemanagt hat. Ich wünsche der EU eine erfolgreiche, lange Zukunft.

Dresden Schande

Elbtal, Semperoper, Zwinger – das touristische Sonnenscheingesicht Dresdens hat dicke braune Flecke gekriegt.  Die aktuelle Inkarnation des Wutbürgers ist besonders hässlich. In einer Gegend, wo es kaum Migranten gibt, fürchten ältere Herrschaften sich vor ‘Überfremdung’, während junge Männer gegen die ‘Lügenpresse’ angrölen. Einpeitscher Bachmann fordert ‘eine andere Demokratie’, von der zu befürchten steht, dass sie nicht sehr demokratisch ausfallen würde. Ein überforderter Bürgermeister stammelt Hilfloses, und über allem schwebt unsichtbar Schutzpatron Putin. Der hat sich der lästigen Vielfalt in Presse und Gesellschaft längst erfolgreich entledigt: ‘Putin hilf!’

Eine politikverdrossene Minderheit will nicht länger Minderheit sein, schon klar. Statt Argumenten liefert sie Vorurteile. Kritik prallt an ihr ab. Dialog ist nicht erwünscht, man will recht haben und recht bekommen. Immerhin hat sie es verstanden, ihren monströsen Namen zum handlichen PEGIDA zu komprimieren. Und sie hat ziemlich erfolgreich den Leipziger Revolutionsslogan ‘Wir sind das Volk!’ usurpiert, eine dreiste Verdrehung, die den Neid so mancher Propagandaabteilung erregen dürfte. Aber die Wahrheit ist auf der Straße, man lese die Transparente! Wer Populisten folgt, wird zum Pöbel.

Der denunziatorische Begriff ‘Lügenpresse’ wurde heute zum Unwort des Jahres 2014 erklärt. Gratulation an die Jury zu dieser Entscheidung!

Hier die Begründung im Wortlaut:

Das Wort „Lügenpresse“ war bereits im Ersten Weltkrieg ein zentraler Kampfbegriff und diente auch den Nationalsozialisten zur pauschalen Diffamierung unabhängiger Medien. Gerade die Tatsache, dass diese sprachgeschichtliche Aufladung des Ausdrucks einem Großteil derjenigen, die ihn seit dem letzten Jahr als „besorgte Bürger“ skandieren und auf Transparenten tragen, nicht bewusst sein dürfte, macht ihn zu einem besonders perfiden Mittel derjenigen, die ihn gezielt einsetzen. Dass Mediensprache eines kritischen Blicks bedarf und nicht alles, was in der Presse steht, auch wahr ist, steht außer Zweifel. Mit dem Ausdruck ‘Lügenpresse’‘ aber werden Medien pauschal diffamiert, weil sich die große Mehrheit ihrer Vertreter bemüht, der gezielt geschürten Angst vor einer vermeintlichen „Islamisierung des Abendlandes“ eine sachliche Darstellung gesellschaftspolitischer Themen und differenzierte Sichtweisen entgegen-zusetzen. Eine solche pauschale Verurteilung verhindert fundierte Medienkritik und leistet somit einen Beitrag zur Gefährdung der für die Demokratie so wichtigen Pressefreiheit, deren akute Bedrohung durch Extremismus gerade in diesen Tagen unübersehbar geworden ist.

Quelle: http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=44

pegida-gruender-lutz-bachmann-posierte-bei-facebook-als-hitler

Pegida-Begründer Bachmann nach Friseurbesuch

Kann denn Dampfen Sünde sein?

Nein!, sagte gestern das EU-Parlament bei der Abstimmung über den Entwurf der Tabakrichtlinie samt Änderungsanträgen. Entgegen den anfänglichen Befürchtungen des E-Zigarettenhandels und der über 2 Millionen Dampfer wurde die E-Zigarette  als Tabakprodukt eingestuft. Apothekenpflichtig werden Hardware und Liquids somit nicht – es wäre auch absurd gewesen, die unbedenklichere Alternative quasi vom Markt zu fegen, während die stark gesundheitsgefährdenden Tabakprodukte nach wie vor hätten frei verkauft werden dürfen. Auch die beschlossene stärkere Regulierung des Produkts ist im Sinne der Verbraucher zu begrüßen.

Dies sind die Beschlüsse zur E-Zigarette im Einzelnen:

  • Hardware ist kein Medizinprodukt
  • Liquid wird nicht als Arzneimittel eingestuft
  • Aromen sind zugelassen
  • keine Apothekenpflicht
  • nikotinhaltige Erzeugnisse mit einem Nikotingehalt bis 30 mg/ml dürfen in Verkehr gebracht werde
  • Inhaltsstoffe müssen durch Hersteller und Importeure an Behörde gemeldet werden
  • Beipackzettel und Verpackung mit Warnhinweisen
  • Abgabe nur an Personen über 18

Nachdem das Oberverwaltungsgericht Münster bereits im September in drei Urteilen entschieden hat, dass nikotinhaltige Flüssigkeiten, die mithilfe von E-IMG_2734bZigaretten verdampft und inhaliert werden, keine Arzneimittel sind, ist nun ein weiterer wichtiger Schritt zur Rechtssicherheit für Verkäufer und Verbraucher getan. Die notorische Gesundheitsapostelin Barbara Steffens (Gesundheitsministerin in NRW und erklärte Gegnerin des elektrischen Rauchersatzes) dürfte das freilich kaum davon abhalten, ihren juristischen Feldzug gegen die E-Zigarette fortzusetzen. Wünschen wir ihr gleichwohl einen Moment des Innehaltens und der Besinnung!

Für alle ehemaligen Raucher, die wie ich erfolgreich auf das vergleichsweise unbedenklichere elektrische Dampfen umgestiegen sind und sich dessen gesundheitlicher Vorteile erfreuen, ein guter Tag. Danke, EU-Parlament!

Erregungen

Fing es mit Bundespräsident Köhler an, der erklärte, die Marine habe die Aufgabe, auch deutsche Handelsinteressen zu schützen? Dass der Mann nur das Offensichtliche ausgesprochen hatte (was sonst sollte die Marine vor Somalia denn tun?), konnte seinen Rücktritt nicht verhindern. Dann ging es Schlag auf Schlag: Guttenberg, die Wulffs, Schavan, Steinbrück, Brüderle mit seinem Dirndlgate und zuletzt ein Herr Hahn, der eine unglückliche Bemerkung über mögliche Vorbehalte der Öffentlichkeit gegen den vietnamesischstämmigen Rösler machte – stets folgte auf mehr oder weniger richtige oder auch nichtige Auslöser eine Empörungswelle, die tsunamiartig sämtliche Medien erfasste, auf alle Kanäle schwappte und neben der Verhältnismäßigkeit auch noch den gesunden Menschenverstand mit sich riss.

Ich muss gestehen, als Guttenplag unserem Verteidigungsminister die Gelfrisur  zauste, konnte ich mich einer nicht nur klammheimlichen Genugtuung nicht enthalten. Als Christian Wulff gezwungen wurde, öffentlich die Hose runterzulassen, und Bettina Wullf im Handumdrehen von der ‚Stilikone‘ (Bild) zum  blonden Biest mutierte, stellte sich Unbehagen ein. Und als man Steinbrück wegen satter Rednerhonorare und einer Bemerkung zu Merkels Gehalt wochenlang als Kanzlerkandidat niedermachte,  wurde daraus Abscheu gegenüber einem sich immer rigider gebärdenden Erregungs- und Demontagewahn. Denn ist Steinbrück, der dank seiner Rednerqualitäten die Adressaten seiner Finanzkritik  dafür blechen lässt, dass er ihnen seine Sicht der Dinge um die Ohren haut, nicht in Wahrheit eher ein umverteilender Robin Hood? Hat Claus Kleber nicht recht, wenn er darauf hinweist, dass Schavans Tat längst verjährt wäre, wenn sie ihren Doktorvater im Affekt umgebracht hätte, anstatt in ihrer Doktorarbeit missverständlich zu paraphrasieren? Wer noch keinen peinlichen Witz gemacht, noch nie inhaliert und noch nie einen Wein für mehr als 5 Euro die  Flasche getrunken hat, der werfe den ersten Stein!

Je abstrakter und komplexer die Probleme werden (Stichwort Finanzkrise, EU-Krise,  Terrorkrise, Klimakrise), desto schwerer sind sie zu vermitteln und desto übermächtiger wird anscheinend der Wunsch auch seriöser Medien, zu vereinfachen, zu personalisieren, auf Nebenschauplätze abzulenken und einfach mal ein bisschen zu unterhalten. Das Netz und die in Echtzeit einlaufenden Klickraten befördern die Tendenz, das Niveau zu senken. Investigativer Leerlauf ist die Folge. Lasst die Kirche im Dorf!, möchte man rufen. Oder zeitgemäßer formuliert: Journalisten und Talker zur Selbstbesinnung ab ins Dschungelcamp!

siehe auch Kommentar von Kurt Kister in der SZ: http://sz.de/1.1595467

Wo ist die Schwarmintelligenz?

Anlass gibt es immer: Stuttgart 21, das drohende Verbot der E-Zigarette, der Bau einer Umgehungsstraße oder ein Gesetzesvorhaben wie Acta, Sopa, Pipa oder wie sie alle heißen. Schon bilden sich Foren und Gruppen. Emails werden verschickt und verbreiten sich kettenbriefartig. Es wird gebloggt und gepostet, was die Leitung hergibt. In kürzester Zeit wachsen die Ad-Hoc-Communities wie Kristalle um ihre Keime herum. Ein bisschen geht es zu wie früher auf dem Marktplatz, wo der größte Schreier die meisten Kunden angelockt hat. Die Kunden im Netz aber sind Akteure. Jeder ist Käufer und Verkäufer, Konsument und Produzent in Personalunion. Was sie eint, ist die Empörung, neudeutsch: die Wut des Netzbürgers.

In den Gruppen und Foren treffen Menschen aufeinander, die sich im realen Leben niemals begegnen würden. Das ist demokratisch und an und für sich begrüßenswert. Man könnte sich austauschen, ein bisschen kennen lernen. Es könnte ein Raum entstehen, aus dem die vielbeschworene Schwarmintelligenz (SI) hervortritt. Mit diesem Begriff verbindet sich die Hoffnung, Quantität könnte in Qualität oder Masse in Klasse umschlagen. Das wäre die Dialektik des Webs. Doch so wie sich vom fast schon totgehypten Cyberspace bislang wenig mehr zeigt als die öden Räume eines 2nd Life, erweist sich auch die SI als scheues Wesen. Dem Zukünftigen kommt ein Phänomen in die Quere, das auch dem Neandertaler schon zu schaffen gemacht haben dürfte – die Gruppendynamik.

Eine Kampfgruppe braucht eine Front; davor wir, dahinter die. Wo die Front verläuft, bestimmen die Lautesten, Schnellsten. Sie bringen anscheinend auch die meiste Zeit fürs emsige Posten mit. Der Umgangston ist rüde. Detailkenntnisse sind eher hinderlich. Es wird verallgemeinert und versimpelt, dass sich die Balken biegen, denn die Öffentlichkeit des Webs ist eine von Couchpotatoes – jeder Teilnehmer veranstaltet quasi seinen Einmann-Stammtisch. Soziale Konventionen sind dabei lästig. Beliebtester Gegner sind ‚die Politiker‘, gerne auch als ‚Drecksäcke‘ etc. tituliert. Nur Versager gehen in die Politik, die es sonst zu nichts bringen würden, und dafür sacken sie noch dicke Diäten ein. – Fällt dir in der Argumentation ein Widerspruch auf? Egal. Komm ja nicht auf die Idee, etwa anzumerken, dass höhere Diäten vielleicht auch fähigere Leute anziehen würden! Wer vor Verallgemeinerungen warnt, zur Sachlichkeit rät und auf die Notwendigkeit verweist zu differenzieren, wird unverzüglich als Störenfried gebrandmarkt, der die Schlagkraft der Bewegung schwächt. Und wer noch dazu nicht weiß, was eine PM ist, und sich Vokabeln wie ‚lol‘ oder ‚akla‘ von seiner Nichte übersetzen lassen muss, outet sich schnell als Internet-Opa.

Ich schlage ‚Shitstorm‘ als Unwort des Jahres vor und warte weiter auf das Erscheinen der SI.

Nachbemerkung des Autors: Ich dampfe E-Zigarette, mit Begeisterung. Und meine Hauptmotivation beim Verfassen dieses Beitrags war natürlich Empörung über den Umgangston in manchen Webgruppen, sprich Wut. Der Text ist folglich überspitzt, höchst unausgewogen und vor allem völlig unzureichend recherchiert. Verbreitet ihn massenhaft!

Uncoole Piraten

Zwei Narrative sind mit dem Begriff ‚Piraten‘ verknüpft: zum einen die romantisierenden Mantel-und-Degen-Klamotten Hollywoods, zum anderen die realen historischen Piraten, deren Adepten ihr blutiges Geschäft überwiegend in der Karibik, im asiatischen Raum und vor der afrikanischen Küste verrichten, wo sie Weltenbummleryachten und in letzter Zeit vermehrt Frachtschiffe und Öltanker entern.

Da nicht anzunehmen ist, dass die deutsche Piratenpartei an die Tradition somalischer Erpresser anzuknüpfen gedenkt, orientiert sie sich wohl an ihren filmischen Vorbildern und ist nach Johnny Depp somit der zweite Versuch, den alten Becher mit neuem Wein zu füllen – in diesem Fall mit Club Mate.

Schon als Kind konnte ich den Machwerken, die über den elterlichen Schwarzweißfernseher flimmerten, wenig abgewinnen. Ich erinnere mich an schwankende Holzkähne mit geblähten Segeln. In der Seite öffnen sich Luken. Kanonen rollen vor und spucken Feuer und Rauch. Von den unsichtbaren Fäden des Schicksals gezogen, nähern sich die gegnerischen Schiffe einander unaufhaltsam an. Die Rammsporne treten in Aktion. Angeführt vom stets perfekt gekämmten Errol Flynn stürmen die Piraten das gegnerische Schiff. Es wird gebrüllt und schnell gestorben. Und immer geht es um Schatzkisten mit Eisenbändern drum und ein dralles Weib, mal unschuldig blond, mal schwarz. Heute kommen digitale Kraken und Medusen hinzu.

Und die Piratenpartei? Beflügelt von störtebekerhaftem Eifer, erklärt sie sich zum Sprachrohr einer Jugend, die mit dem Internet aufgewachsen ist. Die Erfindung ist da. Hard- und Software funktionieren, von vereinzelten Abstürzen und Verwanzungen mal abgesehen. Das gewaltige strukturelle Backbone, das den Traffic erst ermöglicht, arbeitet still und unsichtbar. Die unmittelbare Verfügbarkeit alles Gewünschten ist eine vermeintliche Selbstverständlichkeit. Das gilt auch und gerade für urheberrechtlich geschützte Inhalte, also für Filme, Musik und Bücher. Raubkopieren gilt als cool. Wer von Taschengeld, Bafög oder Berufsanfängergehalt lebt, betrachtet Aufwendungen für mediale Inhalte als unzumutbar. Deshalb, so die Piratenpartei, brauchen wir ein neues Urheberrecht. Oder noch besser gar keins? Manchmal wird das Argument gebraucht, 30 Prozent Einbuße seien verkraftbar. Für Spielberg, Madonna oder Sony Music mag das gelten, für das Fußvolk nicht. Für einen Großteil der Kulturschaffenden und Rechteinhaber würden 30 Prozent weniger Einkommen bedeuten, dass sie unter die Armutsgrenze rutschen.

Na schön, ich gebe zu, ich bin Betroffener. Ich besitze ein paar Urheberrechte und lebe davon, dass andere solche Rechte besitzen und damit ihre Brötchen verdienen. Man soll auch nicht immer alles an einem Punkt festmachen. Ich wende mich deshalb dem Gesamtbild zu und lese (Zeit Nr. 6, 2012): Die Berliner Piraten haben drei Monate gebraucht, um ihre Büros zu verteilen. Man hört von erpresserischen Machenschaften und Nötigung. Die öffentlichen Fraktionssitzungen wurden durch einen wöchentlich zusammentretenden ‚Stuhlkreis‘ ergänzt, in dem ohne ‚Transparenzterror‘ unter Ausschluss der Öffentlichkeit therapeutisch gestritten werden darf. Eine offizielle oder halboffizielle Parteimeinung zu EU und Euro ist dabei noch nicht herausgekommen, auch zu Sopa, Pipa und Acta ist wenig zu vernehmen. Solange der Meinungsbildungsprozess der Basis noch nicht abgeschlossen ist, trauen Piratenpolitiker sich keine Meinung zu. Das sagen gewählte Volksvertreter einer repräsentativen Demokratie, die dem Gesetz nach allein ihrem Gewissen verantwortlich sind.

Auch die Grünen waren einmal klein und niedlich – jung, naiv und politisch unbedarft. Auch sie haben seinerzeit ihre Frusterfahrungen mit Basisdemokratie, Rotationsprinzip und sich selbst genügendem Formalismus gemacht. Allerdings standen sie von Anfang an unter kritischer medialer Beobachtung, und kein Schmäh blieb ihnen erspart. Die Piraten hingegen treffen auf eine merkwürdige mediale Beißhemmung. Dass die Jungen die Fehler der Alten wiederholen, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen, wohl aber den Medien, dass sie ihnen wie verzogenen Kindern mit der verschwurbelten Nachsicht schuldbewusster Eltern begegnen. Dabei schreien ihre (wenigen) Programmpunkte doch danach, kritisch hinterfragt zu werden. Auf der einen Seite sind sie utopistischer als die PDS, auf der anderen neoliberaler als die FDP erlaubt – man könnte auch sagen: verantwortungslos. Wem war es beispielsweise bisher eine Nachfrage wert, dass ihr Frauenanteil auch die Anerkennung der Ayatollahs finden dürfte? Käpt’n Flynn lässt grüßen.

Sorry, ich finde Piraten uncool.

Update: FAZ 24. 2. 2012