Der Umschlag ist bunt, Candy Haus steht drauf, und wie ein Haus aus oder voller buntem Candy ist tatsächlich der Roman. Jedes Kapitel ist anders. Die klassische Kurzgeschichte kommt vor, die auktoriale und die Ich-Erzählung, innerer Monolog in Aphorismenform, E-Mail-Kommunikation, Abschweifung und Verdichtung, Verrätseltes und Erhellendes, Triviales und Raffiniertes, Berührendes und Forderndes, Vergangenheit (angefangen bei der Hippiezeit) über die Gegenwart bis zur Zukunft (2035).
An Anfang und Ende des Romans steht Bix Bouton, der Gründer und Erfinder von Mandala, einem Social-Media-Konzern, der nicht zufällig Ähnlichkeiten mit Zuckerburgs Meta und Facebook aufweist. Reich, erfolgreich und glücklich verheiratet, befindet er sich mitten in einer Lebenskrise: Was soll jetzt noch kommen? Die Erkenntnis überfällt ihn als Vision, als er sich an den Tod seines Jugendfreundes Rob erinnert: Hätte er den Ertrinkenden vielleicht retten können? Daraus wird ‘Besitze dein Unbewusstes’, das es den Nutzern erlaubt, eigene und fremde Erinnerungen nachzuerleben. Mandala ermöglicht es seinen Kunden, ihr Bewusstsein in einen kleinen Kubus hochzuladen und es online zu teilen, eine Fortschreibung der Social Media, wie wir sie kennen, und eine neue Form des Streamings. Die ‘Zählenden’, qualifizierte Autisten, ‘algebrasieren’ den Datenfundus und machen ihn nutzbar, Cyborg-Duplikate, so genannte Proxys, agieren als Stellvertreter ihrer Originale, die Renegaten verweigern sich der Vergesellschaftung des Persönlichen, und es wird Missbrauch betrieben mit ‘Asseln’, welche die Regierung ihren Soldaten und Agenten zum Zweck der Überwachung in den Kopf einpflanzt und die auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden, zu welchen Zwecken auch immer. Im Zentrum aber steht der gealterte Bennie Zalazar, Egan-Lesern bereits aus ihrem Roman Der grössere Teil der Welt bekannt, zu Beginn cleverer Profiteur der disruptiven Technik des Musikstreamings, jetzt Opfer einer neuen Form des Streamings. Um ihn gruppiert sich ein Mikrokosmos von Figuren, hart gegeneinander geschnittene Lebensgeschichten, kunstvoll verdichtet zu Episoden, die häufig von einem Wendepunkt erzählen wie die Eingangsgeschichte von Bix und in denen sich das heutige medial verwobene Leben wie in den Zerrspiegeln von Kirmesbuden spiegelt, mal grotesk verzerrt, mal auf den Kern reduziert, beziehungsweise auf den Punkt gebracht und immer, ungeachtet der Form, lebensprall. Dieser Roman setzt die Synapsen unter Strom. Irgendwie stelle ich mir so New York vor: schnell und laut, intensiv und und in ein spezielles Licht getaucht, das die Details hervortreten lässt.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass der erzählerische Fokus seine Grenzen hat. Manche Dinge wie Proxys oder die Widerstandsbewegung der Renegaten werden nur angedeutet, die gesamtgesellschaftlichen Folgen des Bewusstseinsstreamings wie dessen technische Umsetzung bleiben verschwommen. Candy Haus ist, trotz vieler Science-Fiction-Elemente, kein SF-Roman und auch nicht gerade das, was man eine ‘runde Sache’ nennt. Egans Fähigkeit, uns Leser ungeachtet der episodischen Erzählform mit wenigen Sätzen quasi überfallartig mitten ins Leben einer Person zu versetzen und und unsere Anteilnahme zu wecken, macht die Lektüre dennoch zu einer faszinierenden Erfahrung.
Jennifer Egan
Candy Haus (The Candy House)
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens
S. Fischer 2022