Jonas Karlsson – Das Zimmer

Björn, den Ich-Erzähler des kurzen Romans von Jonas Karlsson, als Sonderling zu bezeichnen,  wäre stark untertrieben. Zunächst scheint es, als wäre er irgend so ein Einzelgänger, der Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen hat; ein Pedant, der das Pech hat, dass sich seine Weltsicht mangels zwischenmenschlicher Kommunikation nicht mit dem Denken Anderer abgleicht und deshalb zu Verschrobenheit wird. Doch nachdem er von seinem Arbeitsplatz in eine ominöse Behörde hochgelobt (beziehungsweise abgeschoben) wurde, entdeckt er das Zimmer. Es liegt auf dem Gang vor dem Großraumbüro, zwischen dem Lift und den Toiletten. Eigentlich ist es nicht viel anders als sein Arbeitsplatz; es gibt darin einen Schreibtisch, einen Stuhl, einen Schrank, einen Lampe und allerlei Büroutensilien. Doch allem ist eine nahezu mystische Vollkommenheit zu eigen. Während er sich von seinen Kollegen verunsichert und bedrängt fühlt, findet Björn im Zimmer Ruhe und Kraft. Zusammen mit der hübschen jungen Frau von der Rezeption erlebt er bei der Weihnachtsfeier sogar einen Moment ekstatischen Glücks. Pech nur, dass er allein den Eingang des Zimmers sehen und hindurchtreten kann.

Das alles wird erzählt in klaren, einfachen, aber niemals trivialen Sätzen. Aus akribisch geschilderten Details setzt sich das Bild eines beliebigen Großraumbüros zusammen, ein Ort der öden Verrichtungen, der kleinlichen Geplänkel und Reibereien. Nach etwa dreißig Seiten meint man nicht nur, man könne dem Protagonisten die Diagnose stellen, Zwangsneurose mit autistischen Zügen und psychotischen Tendenzen etwa, sondern man befürchtet,  die Geschichte könne sich so fortsetzen und selbst die gerade mal 173 großzügig  bedruckten Seiten seien womöglich noch zu lang.

Doch dann kommt plötzlich Dynamik auf. Dass ihr Kollege Björn immer mal wieder minutenlang weggetreten im Flur an der Wand lehnt, verunsichert die Kollegen und bringt sie auf gegen den Außenseiter. Ihr Widerstand verstärkt sich, als sie vom verborgenen Zimmer erfahren. Der Fall schein klar, siehe obige Diagnose. Doch dann schnappt sich Björn, ermüdet von den Idiotenjobs, mit denen man ihn beschäftigt, eine Akte seines Tischnachbarn, nimmt sie mit in das Zimmer und formuliert den gewünschten ‘Rahmenbeschluss’. Das gelingt ihm überraschend gut, und schon steht der vermeintliche Versager als Bürostar da.

Allmählich wird dem Leser klar, dass er ein kleines Juwel in Händen hält, eine Geschichte voller Überraschungen, Wendungen und Spiegelungen. Denn so wie Björns Arbeitsrealität sich in der Vollkommenheitsutopie des Zimmers spiegelt, spiegelt sich in der Trostlosigkeit des Büros auch etwas Allgemeineres. So heißt es an einer Stelle: “Mehr Menschen sollten lernen, ihre schlechten Seiten zu sehen. Das Schlechte ist uns allen gemeinsam. Wie heißt es so schön in Ekelöfs Gedicht: ‘Was das Seichte in Dir, ist auch das Seichte bei anderen.” Man denkt an Kafka und Beckett, und wenn erörtert wird, ob das Zimmer, das Björn sieht, aber die anderen nicht, vielleicht doch ‘ein bisschen’ vorhanden ist, kommt einem unwillkürlich Schrödingers bedauernswerte Katze in den Sinn, die gleichzeitig tot und lebendig ist. Ein großer kleiner Roman.

Jonas Karlsson
Das Zimmer, Roman

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Luchterhand 2016

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