Aravind Adiga – Der Weisse Tiger

Wer beim Lesen des Titels an Fritz Langs Abenteuerklassiker Der Tiger von Eschnapur denken sollte, liegt falsch. Mit der idealisierten Maharadschapracht des Films und den Klischees von Sadhu-Mystizismus, Goa-Freizügigkeit und Taj-Mahal-Romantik, die in den Köpfen so mancher Indientouristen spuken mögen, hat das Buch nichts gemein. Was Adiga in seinem erstaunlichen Erstling auftischt, ist harte Kost.

Der Weisse Tiger ist ein Briefroman. Genauer gesagt, er besteht aus einem einzigen langen Brief, den Balram Halwai an den Ministerpräsidenten Chinas ‘in Peking, der Hauptstadt der freiheitsliebenden Nation China’ in mehreren Nächten verfasst. Anlass ist der geplante Besuch des Ministerpräsidenten in Indien.  Bei der Gelegenheit dürfte die indische Regierung das Land als aufstrebende asiatische Fortschrittsnation präsentieren, als leuchtendes Beispiel des freien Wirkens von Kapital und Wissen. Alles Lügen, findet Balram. Er fühlt sich als erfolgreicher Taxiunternehmer berufen, dem hohen Besuch reinen Wein über das indische Unternehmertum  einzuschenken und ihm den ein oder anderen Tipp mitzugeben. Im Folgenden erzählt er seine haarsträubende Gesichte, mit dreistem Sendungsbewusstsein, derbem Humor und einem schonungslosen Blick auf die finsteren Seiten des Landes.

Geboren im kleinen Dorf Laxmangarh, sind seine Aussichten alles anderes als rosig. Die Eltern haben keine Zeit, ihm einen Namen zu geben, deshalb ist er Munna, der Junge. In der Schule gibt es nicht viel zu lernen; der Lehrer schläft tagsüber seinen Rausch aus, die Schuluniformen und Lehrmaterialien verkauft er, weil das Gehalt ausbleibt. Da ist die Anstellung im Teehaus als Kohlenknacker schon ein echter Karrieresprung. Ganz nebenbei erhält er beim Stimmenkauf  für die nächste Wahl auch seinen Namen, denn Wähler brauchen einen, ob gekauft oder nicht. Aber Balram will sich mit dem vorgezeichneten Weg nicht zufriedengeben. Er wird Fahrer  und landet mit seinem Herrn in Delhi – von der Finsternis ins Licht. Aber dieses Licht wirft harte Schatten. Unter jeder luxuriösen Wohnanlage für die Reichen gibt es einen fensterlosen Keller, die Behausung der Bediensteten,  in der es Kakerlaken von der Decke regnet. Und hinter jeder prachtvollen Shopping-Mall liegt ein schäbiger Markt für die Armen. Wenn Balram seinen Herrn beim Abheben von Bestechungsgeld von Geldautomat zu Geldautomat und mit seiner attraktiven New Yorker Frau durchs Nachtleben der Stadt kutschiert, werden beide Welten, die der Herren und die der Diener, in krassen Bildern ausgeleuchtet. Manche dieser Bilder brennen sich unvergesslich ein: die Mutter auf dem zu kleinen Arme-Leute-Scheiterhaufen am Ganges, die einfach nicht verbrennen will; der verletzte Hund, der sich wie rasend im Kreis dreht, weil er vergeblich nach der offenen Wunde in seiner Flanke schnappt; die Obdachlosen, die auf dem Bürgersteig wohnen; die roten Paanflecken, die auf den Boden gespuckt werden. Aber die Diener mucken nicht auf, denn sie haben ihre Rolle verinnerlicht, Sie sind wie die Hühner in den gestapelten Käfigen auf dem Markt, die lethargisch zusehen, wie ihre Leidgenossen geschlachtet und ausgenommen werden. Der Hühnerkäfig ist Adigas Sinnbild für ein Indien geprägt von Korruption, Unwissenheit, Aberglaube, Dreck und Gewalt.

Balram aber will anders sein. Er ist der weiße Tiger, entschlossen, aus seinem Käfig auszubrechen. Er ist der unerbittliche Beobachter, der amoralische Freiheitskämpfer in eigener Sache. Um sein Ziel zu erreichen, ist ihm kein Preis zu hoch, und wenn es sein muss, opfert er sogar seine siebzehnköpfige Familie. Am Ende gleicht der Diener seinem verhassten Herrn. Erst ganz zum Schluss dieses flott erzählten, bitterbösen Schelmenromans, endlich Chef seines eigenen Taxiunternehmes und stolzer Besitzer gleich dreier Kronleuchter, beschließt Balram, es besser zu machen, ein bisschen jedenfalls. Deshalb zahlt er der Familie des überfahrenen Radfahrers freiwillig eine Entschädigung, nachdem die bestochene Polizei die Anzeige abgewimmelt hat. Mehr Läuterung wäre zum Schluss auch unglaubwürdig gewesen.  Balrams Geschichte ist leider alles andere als das.

Wer sich für das ungeschminkte  Indien interessiert, dem seien noch zwei weitere großartige Bücher empfohlen: Das Gleichgewicht der Welt von Rohinton Mistry und Bombay: Maximum City von Suketu Mehta.

Aravind Adiga
Der Weisse Tiger, Roman

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

C. H. Beck 2017

A. Adiga bei Amazon

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