Nehme ich mir das neue Buch eines von mir geschätzten Autors vor, mache ich, um die Spannung zu wahren, einen Bogen um Rezensionen und gönne dem Umschlagtext höchstens mal einen halben Blick. Beim Titel Crossroads dachte ich an den gleichnamigen Song der legendären Gruppe The Cream, und das sonnenwarme Cover mit dem Gitarrenspieler und der innig lauschenden jungen Frau evozierte Woodstock-Bilder. Folglich erwartete ich von dem 826-Seiten-Wälzer ein Epos über die Hippiegeneration. Damit lag ich daneben, aber vielleicht nicht ganz so weit, wie es zunächst den Anschein hatte.
Crossroads spielt 1971/72 im fiktiven New Prospect, einem Vorort von Chicago. Im Mittelpunkt steht die Pfarrersfamilie der Hildebrandts. Russ und Marion haben vier Kinder: Clem, Becky, Perry und Judson. Mit Ausnahme des noch jungen Judson stehen alle an einer Wegkreuzung ihres Lebens. Entscheidungen müssen getroffen werden, Pläne werden geschmiedet und zerplatzen, Lebenswege verändern sich. Russ, der erste Gemeindepfarrer, ist neidisch auf Rick, den jüngeren zweiten Pfarrer und Gründer der namensgebenden Jugendgruppe Crossroads. Der charismatische Rick kommt gut an bei den Jugendlichen. Der hemdsärmligere Rick fühlt sich ausgeschlossen und zurückgesetzt, und auch seine Ehe läuft nicht mehr rund. Er hat das sexuelle Interesse an der pummelig gewordenen Marion verloren, stattdessen reizt ihn das jüngere Gemeindemitglied Frances, die mit ihrer unkonventionellen Art ein alternatives Lebensmodell für ihn verkörpert. Clem, sein ältester Sohn, hadert unterdessen mit seiner Zurückstellung vom Wehrdienst. Die vermeintliche moralische Schuld gegenüber seinen in Vietnam dienenden Altersgenossen glaubt er dadurch begleichen zu müssen, dass er mit seiner Freundin Schluss macht, das Studium abbricht und sich freiwillig zur Musterung meldet. Becky, seine jüngere Schwester, verliebt sich in den Musiker Tanner und spannt ihn dessen Freundin und Bandkollegin aus, während Perry, ihr begabter, aber schwieriger Bruder, sich mit Drogen einlässt. Diesen fünf Hildebrandts folgt Franzen mit wechselnder Perspektive. Kein Umweg ist ihm zu lang und kein Detail zu nichtig, um ihre Dilemmata auszuleuchten und in kunstvoll eingewobenen Rückblenden ihre Lebensgeschichte zu inszenieren. Dass keine Langeweile aufkommt, verdankt sich einerseits dem unglaublich nuancenreichen psychologischen Erzählstil Franzens, der bisweilen an hyperrealistische Gemälde denken lässt, bei denen man mit der Lupe quasi jedes längs- und querliegende Härchen einzeln studieren kann, andererseits seiner Fähigkeit, die überbordende Detailfülle mit großen Bögen zusammenzuhalten.
Und dann ist da noch die Sache mit Gott. Es ist kein Zufall, dass die beiden Teile des Buches mit Advent und Ostern überschrieben sind. Schließlich geht es um eine Pfarrersfamilie, und da verwundert es nicht, dass auch Themen wie Religion und Glauben behandelt werden. Schubkastenreligiosität ist dabei weder Franzens noch Russ’ Sache. Russ ist schließlich froh, der engen Welt der Mennoniten entkommen zu sein, in die er hineingeboren wurde, und mit zu den stärksten Passagen des Buches gehört seine in der Rückschau erzählte spirituelle Naturerfahrung in der Hochebene eines Navajo-Reservats. Doch die Häufung von Glaubenskrisen, Bekehrungen, Gotteserfahrungen bis zur Gottesidentifikation und nicht zuletzt der engelsgläubige Autofahrer, der zum Ende den nach Hause trampenden Clem mitnimmt (der einzige Agnostiker der Familie) befremden den eher religionsfernen Leser. Auch wenn der Roman mit einem Hauch Ernüchterung endet und die eine oder andere Bekehrung in Frömmelei zu münden scheint und damit quasi ‘entschärft’ wird, stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die Themen Religion und Glaube in der geplanten Trilogie einnehmen werden, die mit dem vorliegenden Roman eröffnet wird. Drei Generationen soll das Gesamtwerk umfassen, und es würde nicht überraschen, wenn sich herausstellen sollte, dass der erste Band bereits mit Blick auf das Erstarken der Evangelikalen konzipiert wurde, die in den USA eine unheilige Allianz mit dem reaktionären Populismus eingegangen sind.
Und was ist mit Woodstock? Ein schwaches Echo davon findet sich bei den Jugendlichen, die in der Crossroads-Gruppe tanzen, singen, meditieren und einander mit harmlosen Psychospielen näherkommen, und das ist eigentlich eine ganz sympathische Reminiszenz an das kurze drogenselige Hippie-Delirium.
Jonathan Franzen
Crossroads
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Rowohlt 2021
Jonathan Franzen bei Amazon
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