Hjorth & Rosenfeldt – Die Schuld, die man trägt

Dies ist der achte Band der Sebastian-Bergman-Reihe. Nachdem im Vorband Billy, der langjährige, zuverlässige Mitarbeiter, als Serienmörder (!) entlarvt wurde, steht das Schicksal der schwedischen Reichsmordkommission auf der Kippe. ‘Verunsichert’ beschreibt den Gemütszustand der Protagonisten nur unzureichend. Sie sind erschüttert, gehen auf dem Zahnfleisch. Torkel, der ehemalige Leiter der Kommission, wird als Sündenbock geopfert.  In einem Schweinestall findet man eine ertrunkene Tote, an der Wand steht in roter Farbe die ominöse Aufforderung: Lös das hier, Sebastian Bergman. Dabei hat Bergman, der kantige psychologische Berater der Kommission, eh schon genug zu knapsen. Kaum hat er verarbeitet, dass seine Mitarbeiterin Vanya seine uneheliche Tochter ist, stirbt ein Privatpatient, der zuvor den dringenden Wunsch geäußert hat, er möge mit seiner Tochter sprechen. Auch von einer Lebenslüge  war die Rede. Als Bergman pflichtschuldigst seinem Wunsch nachkommt, trägt dessen Tochter Cathy den Anhänger seiner ehelichen Tochter Sabine, die beim selben thailändischen Tsunami ums Leben kam wie angeblich der Sohn des Patienten. Der hat jedoch nie existiert. Könnte es also sein, dass Cathy in Wahrheit Sabine ist? Und als wäre das noch nicht genug, taucht plötzlich wieder Bergmans Stalkerin Ellinor auf, frisch aus dem Gefängnis entlassen, und verschafft sich den Schlüssel zu seiner Wohnung.

Es bedarf zweifellos eines hohen erzählerischen Aufwands, all diese Wendungen plausibel zu machen, doch Hjorth und Rosenfeldt gelingt es scheinbar mühelos, mit klarer, aber nicht trivial anmutender Sprache und großer Raffinesse. Die Sätze sind kurz, das Tempo hoch. Unerbittlich treiben die haarsträubenden Verwicklungen den Leser einem nervenzerfetzenden Finale entgegen, das in einen brutalen Cliffhanger mündet. Mit anderen Worten: Krimilektüre vom Feinsten.

Hjorth & Rosenfeldt
Die Schuld, die man trägt

aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

Wunderlich 2023

Horth & Rosenfeldt bei Amazon

Ian McEwan – Lektionen

Roland Baines, aufgewachsen als Sohn eines englischen Offiziers in Libyen, wird als vierzehnjähriger Internatsschüler von seiner Klavierlehrerin geküsst, der Beginn einer exzessiven sexuellen Beziehung. In Schilderung dieser Amour fou scheint noch einmal McEwans Faszination für das Abgründige auf, das so charakteristisch für seine Frühwerke war.  Jahre später dann wird Roland mitsamt kleinem Sohn von seiner Frau Alissa verlassen, die Autorin werden will. Beide Erfahrungen – oder Lektionen – sind für ihn prägend.

Die Schule bricht er ab, seine Klavierbegabung lässt er brachliegen.  Immerhin verfügt er über ausreichend Selbstdisziplin, um sich mit strengem Lektüreplan einen soliden Grundstock an literarischer und philosophischer Bildung anzueignen. Nach ausgiebigen Reisen rund um die Welt versucht er sich als Dichter, später verfasst er Sinnsprüche für Grußkarten, betätigt sich als Tennislehrer und jobbt zum Ende hin als Barpianist in einem Hotel. Sein Leben ist rastlos, seine Legliebten sind zahlreich, er lässt sich treiben, ohne seine vielen Talente auszureizen. Erst mit sechzig stellen sich mit der Heirat mit Daphne, einer langjährigen Freundin, so etwas wie Ruhe und Glück ein.

Währenddessen zieht das Jahrhundert vorbei, angefangen von der Suezkrise über Margaret Thatcher, Tschernobyl und dem Fall der Mauer bis zur Corona-Epidemie und Trumps Feldzug gegen die Demokratie. Roland versucht sich auf alles einen Reim zu machen – und vollzieht dabei Irrtümer nach, die den meisten Lesern noch gut in Erinnerung sein dürften, man denke nur an das von Fukuyama vorschnell ausgerufene ‘Ende der Geschichte’ nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Historie ist innig mit Rolands eigener Familiengeschichte verwoben. Alissas Mutter ist nach Kriegsende nach Deutschland gereist, um einen Artikel über die Weiße Rose zu schreiben. Ihr unerfüllter literarischer Ehrgeiz wird für Alissa schließlich zum Antrieb, sich von Mann und Kind zu trennen und für ihre Ambitionen zu leben. Die in einem Tagebuch dokumentierte Recherche ihrer Mutter gehört neben Rolands Abschied von der krebskranken Daphne zu den intensivsten Passagen des Romans. Zwischendurch aber ist er über weite Strecken so schwer zu fassen wie etwa eine Mahlersinfonie für ungeübte Hörer: so viele Motive, Verweise, Anspielungen. Die 709 Seiten sind vollgestopft mit zahllosen Details: historischen, politischen, kulturellen, architektonischen, psychologischen, musikalischen und so weiter. Manchmal stellt sich trotz McEwans geschliffener Sprachkunst Überdruss ein, und man fragt sich unwillkürlich, ob Roland Baines diesen Aufwand rechtfertigt.

Doch gerade das Durchschnittliche dieses rastlos Suchenden und das Element des Beliebigen und Nichtgelungenen in seiner Biographie erweisen sich als Vehikel einer Bedeutungserhöhung zum Allgemeingültigen. Denn im Kern kreist der Roman um die Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht, um Schuld und Vergebung, um Irrtum, Verlust und das Glück, das der Zufall schenkt. Oder geht es vor allem ums Entscheiden, dann handeln!, wie Roland irgendwann vermutet? Am Ende jedenfalls steht tiefer Pessimismus. Alissa, inzwischen als bedeutendste Autorin Europas und Anwärterin auf den Nobelpreis gehandelt, gelangt zu folgender ernüchternder Einsicht: Meine Romane sind voll mit blöden, fordernden, widersprüchlichen Frauen, die sich aus dem Staub machen. … Aber blöde Männer kommen auch vor. Roland wiederum macht eine lange Liste der Probleme,  die den Fortbestand der Menschheit über das Jahrhundert hinaus als eher unwahrscheinlich erscheinen lassen. Der Gedanke drängt sich auf, dass hier ein desillusionierter Autor sein persönliches Fazit zieht. Vielleicht liegt es in der Natur der Sache, dass mit dem Alter die Einsicht in die Vergeblichkeit allen Strebens einhergeht. Man könnte es mit einem chinesischen Sprichwort aber auch ein wenig trostvoller ausdrücken: Himmel und Erde bringen nichts Dauerhaftes hervor, wie viel weniger der Mensch.

Ian McEwan
Lektionen

aus dem Englischen von Bernhard Robben

Diogenes 2022

Ian McEwan bei Amazon

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis

Ich nehm’s gleich vorweg: Das glückliche Geheimnis ist das Wühlen. Geiger ist ein Wühler. Er wühlt, mit Unterbrechungen, in Wiener Altpapiercontainern und fördert Bücher, Postkarten,  Briefkonvolute und Tagebuchaufzeichnungen zu Tage. In seiner Studentenzeit verschafft ihm das Wühlen kostenlosen Lesestoff, der Flohmarktverkauf des Verwertbaren sichert ihm den Unterhalt. Später wird das Wühlen zur Gewohnheit, zum Sinn und Ordnung stiftenden Ritual. Die in den Briefen und Tagebüchern aufgehobenen Stimmen  werden gar zur Schule, zum Fundament seines Schreibens: ‘Die vielen Metamorphosen im Arbeitsprozess sind schwer nachzuzeichnen. Die Lumpen, die ich nach Hause brachte, mussten zerrissen und in Fasern aufgelöst werden, damit daraus neuer Stoff entstehen konnte. Mein Schreibtisch  war das Spinnrad, auf dem ich die Bruchstücke aus Fremdem und Eigenem zu neuen Fäden spann.’

In dem autobiographischen Text erzählt Geiger mit feiner Ironie von seinem Leben, seinem Schreiben, von Beziehungswirren und großer Liebe, seiner Sorge um  die Eltern, vom Sichverlieren und Sichfinden,  vom Glück des Wühlens und Sammelns. Dabei zielt er in die Höhe, der Text ist gedrechselt und poliert. ‘Ginge das, was ich schreibe, nur mich etwas an, bestünde der Fehler nicht in der Offenheit, sondern in meiner schriftstellerischen Unfähigkeit, dem Persönlichen grundsätzliche Bedeutung zu geben’.  Das Erlebte destilliert er zu Reflektion, gefasst in schöne, hochliterarische Sprache. Über weite Passagen wirkt das Buch essayistisch. Das ist gut zu lesen, zu Gedanken anregend, doch seiner Offenheit, die bis zur Selbstentblößung geht, nimmt er so auch die Schärfe und dem Schmerz den Stachel.

Wer in der Literatur Erschütterung und Betroffenheit sucht und Erfahrungen machen will, ist hier  fehl am Platz. Nur angedeutete Szenen, keine ausgemalten Charaktere, keine Anekdoten – es gibt so einiges, was Geigers Text nicht ist. Und ein wenig streng urteilt er am Ende über Kollegen, die nicht wie er in Altpapiercontainern gewühlt haben und mit dem Studium von alten Tagebüchern durch die Schule des Lebens gegangen sind, also über  Schriftsteller, die ihre Geschichten vielleicht  eher der Imagination, dem Träumen und dem spielerischen Fabulieren verdanken, wobei sie übersähen, dass die Menschen im wahren Leben so viel ‘unlogischer’ seien als die von ihnen erdachten.  Da wird es am Ende doch ein bisschen eng und schulmeisterlich. Trotzdem muss man seine Schlüsse nicht alle übernehmen oder sich für den Autor persönlich interessieren, um Das glückliche Geheimnis zu goutieren. Wer sich darauf einlässt, wird in diesem klugen, nachdenklichen Buch der Selbst- und Welterkenntnis fündig werden.

Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis

Hanser 2023

Arno Geiger bei Amazon

Offener Brief deutscher Schriftsteller – Solidarität mit Israel

Literaturbetrieb, jetzt!

Der Brief kann weiterhin von Autorinnen und Autoren unterschrieben werden. Bitte eine kurze Nachricht an offenerbrief.literaturbetrieb@gmail.com

Dass am 7. Oktober so viele Jüdinnen und Juden ermordet wurden wie seit der Shoa nie zuvor an einem Tag, und dass der Antisemitismus auf den Straßen dieses Landes, das sich bemühte, alles jüdische Leben zu vernichten, wieder in einer unerträglichen und aggressiven Form sich Raum nimmt, ist furchtbar. Doch nach dem Angriff der terroristischen Hamas auf Menschen, die nichts anderes zu Opfern von Folter, Vergewaltigung, Entführung und Mord machte, als dass sie jüdische Israelis sind, verharrt der Literaturbetrieb in einem an Bräsigkeit nicht zu überbietenden Schweigen. Oder ist es gar keine Bräsigkeit, sondern konzentriertes Stillhalten, um bloß keinen Fehler zu machen? Sich nicht angreifbar zu machen? Selbstbewusstes oder in irgendeiner Form dem grassierenden Antisemitismus die Stirn bietendes Schweigen jedenfalls kann es nicht sein.

Der Literaturbetrieb könnte machen, was er auch sonst macht: Solidaritätsbekundungen und Solidaritätslesungen. Das alles wäre nicht viel und doch wäre es eine öffentliche Haltung, die der einen oder dem anderen Halt gäbe, und die den jüdischen Autorinnen und Autoren deutlich machen würde: Ihr seid nicht allein, wir sind an Eurer Seite. Stattdessen wird geschwiegen, ein Schweigen, das dumpfer und lauter nicht sein könnte. Wo sind die Literaturhäuser, die Literaturinstitutionen, die Literaturfestivals, die Akademien, die Verlage? Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 zog nahezu ad hoc Solidaritätsbekundungen nach sich, die jetzt fehlen. Warum? Hat wirklich niemand dazu eine Haltung? Oder ist der Antisemitismus bereits so weit im Literaturbetrieb verankert, dass hier der Grund zu suchen ist?

Jüdinnen und Juden sind in diesem Land, in Europa und weltweit bedroht. Es ist Zeit, in aller gebotenen Schärfe die Stimme zu erheben. Wir haben genug von jedwedem relativistischen Lavieren. Wir sehen das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung und fordern humanitäre Hilfe, wenden uns aber dagegen, mit dem Leiden der Menschen im Gaza-Streifen den Terror der Hamas zu relativieren und die Selbstverteidigung Israels zu delegitimieren. Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten und hat, wie jeder funktionierende Staat, die eigene Bevölkerung vor Terror zu schützen.

Wir sind links-, liberal- und konservativ-denkende Autorinnen und Autoren. Was uns eint, ist die Solidarität mit den in Deutschland, Österreich und der Schweiz lebenden Jüdinnen und Juden. Was uns eint, ist die Solidarität mit dem Staat Israel und allen Menschen, die sich für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, auch im Gazastreifen, einsetzen. Wir stellen uns gegen jede Form von Antisemitismus – aus der Mitte, wie von rechts und links.

Stray – einmal Katze sein

Einmal Katze sein – welcher Fellnasenbetreuer hat sich das noch nicht gewünscht? Das Konsolenspiel Stray macht es möglich.

Zu Beginn lebt Stray, der Streuner, in einer Art Katzenparadies. Mit seinen Kumpels macht er sich an einem sonnigen Morgen auf den Weg ins Revier, doch da rutscht er von einem Rohr ab strayund landet erst in der Kanalisation und dann in einer dystopischen unterirdischen Stadt. Die Menschen sind verschwunden, bewohnt wird die Stadt unter der Kuppel von traurigen humanoiden Robotern, die so tun, als wären sie Menschen. Sie stricken, philosophieren (‘Heute ist das Morgen von gestern’) und werkeln an den Relikten der Menschenzeit. Auf einem Tisch liegt sogar sogar Lebenshilfe aus, ein Buch mit dem Titel Der sichere Weg für eine KI, so intelligent zu werden wie ein Mensch. Man muss sie einfach liebhaben.

Mühelos schlüpft man in Strays Fell. Die Katze ist wunderbar animiert, sie schlabbert Wasser, kratzt an Sofas und Tapeten, schnurrt und miaut in verschiedenen Tönen, springt, rennt und schleicht. Natürlich will sie zurück an die Oberfläche und zu ihren Kumpels. Zuvor gilt es eine Menge Rätsel zu entwirre und allerlei  ufgaben zu lösen. Ein Zuckerschlecken ist das nicht, denn überall lauern die blutgierigen Zurks. Sie sehen aus wie überdimensionale Läuse, und wenn es ihnen gelingt, Stray anzuspringen, ist es aus mit ihm. Später kommen noch Killerdrohnen hinzu. Die sprichwörtlichen sieben Katzenleben haben sich da schnell erschöpft. Für mich als Wenigspieler waren die  Zurk- und Drohnenpassagen ziemlich nervenzerfetzend und ich hätte liebend gern darauf verzichtet. Aber zum Glück gibt es ja Walkthroughs, und zahlreiche Netzvideos wie beispielsweise die von lagunaxp, die bei der Bewältigung helfen.

Auch mit Nachhilfe aus dem Netz ist Stray spannend genug. Mit allzu strenger Logik sollte man dem Spiel freilich nicht begegnen, dafür ist das Setting zu märchenhaft und naiv. Stray kann schließlich nicht nur mit Robotern und seinem Drohnenhelferlein kommunizieren, sondern sammelt in seinem Rucksack auch alle möglichen Gegenstände, die ihm auf seiner Quest weiterhelfen. Trotzdem ist Stray ein charmantes kleines Game für XBox und PS4/5 in reizvoller bunter Neonoptik und einem unwiderstehlichen Identifikationsobjekt, das jedem spielenden Katzennarr ans Herz gelegt sei.

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Auf der Insel 5 – Lanzarote

Der zweite Besuch, dieselbe Unterkunft: das Los Jameos Playa in Puerto del Carmen. Das Hotel liegt unmittelbar an der Strandpromenade, und der Flughafen ist nicht weit. Trotzdem genießt man in der großzügigen Poollandschaft mit liebevoll gepflegten Kakteen- und Palmenanpflanzungen eine erstaunliche Ruhe – wenn nicht gerade die Animationscrew sich lautstark bemüht, die notorisch trägen Gäste von ihren Ruheliegen aufzuscheuchen. Service und Buffet sind, der Viereinhalb-Sterne-Kategorie entsprechend, tadellos.

Poollandschaft Los Jameos Playa, Lanzarote

Bei unserem ersten Besuch wurde gestreikt, doch diesmal waren alle Inselattraktionen zugänglich. Die erste Anlaufstelle war der Jardin de Cactus, gegründet von César Manrique (1919 – 1992), dem vielseitigen Inselkünstler, der Lanzarotes Erscheinungsbild maßgeblich geprägt hat. Im Kakteengarten gibt es 4500 Arten aus fünf Kontinenten zu bestaunen.

Ein weiteres Landschaftskunstwerk von Manrique ist die Grotte Jameos del Agua, ein natürliches Gebilde, in das sich Restaurant und Konzertbühne harmonisch einfügen. Nach der Besichtigung streben die Besucher wie Überlebende einer Apokalypse ans Licht – und treffen auf einen geradezu unwirklich schönen Pool.

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Lanzarote liegt 140 Kilometer westlich der marokkanischen Küste. Seit den letzten Vulkanausbrüchen von 1730 bis 1734 und 1824 ist mehr als ein Viertel der Insel von schwarzer Lava bedeckt. Die durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge beträgt lediglich 112 Millimeter. Wie Flora und Fauna sich die lebensfeindliche Umwelt erobern, ist ein faszinierendes Studienfeld für Biologen. Unsere beiden Inselbesuche liegen sechs Jahre auseinander, und selbst in dieser kurzen Zeitspanne waren Veränderungen zu beobachten. Neben eingewanderten Halsbandsittichen gab es diesmal auf dem Hotelgelände auch Spatzen und Tauben zu beobachten, und in einer Caldera, einem Vulkankrater, haust angeblich ein Geierpaar, das sich vermutlich von Mäusen und Eidechsen ernährt. Die Landschaft ist faszinierend in ihrer kargen Schönheit.

Die Vorstellungen von einem gepflegten Vorgarten sind lokal verschieden. Hier die typische Lanzarote-Variante:

Im Naturschutzgebiet Timanfaya wird am Vulkanschlot zur Gaudi der Touristen Reisig verbrannt, und im Restaurant wird mit Erdwärme gegrillt.

Zum Abschluss noch ein Blick auf die Salinen, das Kloster von Teguise – und den Atlantik.

Sommerlektüre

Etwas Leichtes, Spannendes sollte es sein, Lektüre für die Gartenliege und den Pooldienst im Urlaub, wenn das Tagesausflugsprogramm abgehakt ist und das träge Fläzen im Liegestuhl sanft zum abendlichen Buffet überleitet. Ein Bücherflohmarkt im dörflichen Vereinsheim kam da gerade recht. Wie erwartet, war das Angebot in den Kategorien Krimi, Kochbuch und Lebenshilfe vielfältig und groß. Ich entschied mich für Ein Bild der Niedertracht  von Val McDermid und Das Komplott  von John Grisham.

McDermid hat mit ihren frühen Krimis mit lesbischen Ermittlerinnen, die seinerzeit in einem deutschen Kleinverlag erschienen sind, Krimi- und Emanzipationsgeschichte geschrieben. Ich wurde durch Das Lied  der Sirenen auf sie aufmerksam, erschienen 1996 bei Droemer & Knaur. Der erste Band der Reihe mit dem Profiler Tony Hill und der Ermittlerin Carol Jordan war ein wahrer Pageturner, Lesefutter für schlaflose Nächte. Doch mit der Zahl der Bände ließ die Spannung nach, mäßig interessante Fälle lösten sich mit Langweilern ab, so dass ich bald wieder ausstieg. Nun also der bislang letzte Band der Karen-Pririe-Reihe. Der erste, Echo einer Winternacht von 2003  wurde bereits unter dem Titel Echo einer Mordnacht als Dreiteiler verfilmt. Die Titeländerung rührt daher, dass man den Dreh geldsparend in den Sommer verlegt hat, und auch sonst zeichnet sich die Miniserie nicht unbedingt durch teure Einstellungen und raffinierte Kamerafahrten aus. Immerhin tröstet Lauren Lyle als Karen Pririe mit ihrem sympathischen Auftreten über die weitgehend spannungslose Abfolge der Szenen hinweg. Bei der Buchlektüre verblasste dieses einnehmende Gesicht jedoch recht schnell, und ich musste an Malen nach Zahlen, beziehungsweise Schreiben nach Schablone denken. Die Geschichte macht den Eindruck, als sei die Handlung Szene für Szene vorab konstruiert und anschließend mit fadenscheinigen Personen und einer Unmenge von Belanglosigkeiten ausstaffiert worden. Kein einziger lebendiger Dialog, kein origineller Gedanke, kein fesselndes Bild. Bei der gnadenlos akribischen Aufzählung des umfangreichen Belags zweier Pizzen warf ich frustriert das Handtuch.

Ganz anders Das Komplott von Grisham. Malcolm Bannister, der afroamerikanische Held des Buches, ehemaliger Anwalt und seit fünf Jahren unschuldig im Gefängnis, sieht seine Chance gekommen, als ein Richter ermordet wird. Er behauptet, den Täter zu kennen, und bietet dem FBI einen Deal an. Daraus entspinnt sich eine wendungsreiche, immer wieder überraschende Geschichte, die mit ihrem Tempo und ihrem Rhythmus nicht zufällig an Grishams von Sydney Pollack so makellos verfilmten Roman Die Firma erinnert. Bannister steht einem von Anfang an als höchst lebendige Figur vor Augen, stark, humorvoll und vielschichtig. Auch Grisham hat sicherlich einige Bücher abgeliefert, die eher routinierte Langeweile verströmen, doch dieses hier wirkt ausgesprochen frisch und kraftvoll, geradezu inspiriert. Es scheint, als sei dem Autor seine Figur zusammen mit der Idee zum Roman in Erscheinung getreten und habe sich mit komplettem Eigenleben quasi inkarniert. Dass Bannister über weite Strecken als Icherzähler fungiert, wirkt zusätzlich belebend. Unnötig zu erwähnen, dass das Gefängnisleben und die juristischen Tricksereien mit prallen Details angereichert sind und ausgesprochen überzeugend rüberkommen, obwohl sich Grisham im Nachwort, nicht ganz frei von Koketterie, damit brüstet, er habe auf Recherche nahezu verzichten können. Aber schließlich ist er als Rechtsanwalt in diesen Dingen natürlich Experte.

Wie Bannister sich aus dem Gefängnis befreit, die Behörden austrickst und ganz nebenbei für Gerechtigkeit sorgt, ist von Anfang bis Ende spannend – eine im besten Sinne ‘leichte’ und in jeder Hinsicht zufriedenstellende Sommerlektüre.

Val McDermid
Ein Bild der Niedertracht

aus dem Englischen von Dr. Kirsten Reimers

Droemer 2021

Val McDermid bei Amazon




John Grisham
Das Komplott

aus dem Amerikanischen von Bea Reiter und Imke Walsh-Anaya

Heyne 2013

John Grisham bei Amazon

Kerstin Ekman – Am schwarzen Wasser

Warum bin ich erst jetzt auf diese großartige Autorin gestoßen? Es brauchte die bemerkenswerte Fernsehserie Blackwater (derzeit noch in der ARD-Mediathek zu sehen), und reich belohnt wurde ich mit einer Leseerfahrung, wie man sie nicht alle Tage macht.

Die Lektüre wurde in der heißesten Zeit des Jahres begonnen, und sogleich machte ich die merkwürdige Erfahrung, dass es um mich herum gefühlt mehrere Grade kühler wurde, denn der Roman versetzt einen mitten hinein in den schwedischen Winter, genauer gesagt nach Svartvattnet in Jämtland im Jahre  1916, in eine dörfliche Welt, in der es noch Hunger und bittere Armut gibt und das Leben ein Überlebenskampf ist. Im Wald heulen die Wölfe, Flüsse und Seen sind zugefroren. Die frischgebackene Hebamme Hillevi aber folgt dem Ruf ihres Herzens, denn ihr heimlicher  Verlobter soll demnächst die Nachfolge des dortigen Pfarrers antreten. Deshalb bewirbt sie sich als Gemeindehebamme und wird gleich zu Anfang arg auf die Probe gestellt. Eigentlich ist es nicht üblich, dass in dieser Gegend bei illegitimen Geburten eine Hebamme hinzugezogen wird, doch Hillevi, eine zupackende, energische junge Frau, hört von einem Mädchen, das seit vierten Tagen in den Wehen liegt, und macht sich auf den kilometerlangen Weg zu dem abgelegenen Gehöft – mit Schneeschuhen, da ein Fuhrwerk nicht verfügbar ist. Das Mädchen ist halb verhungert, die Geburt qualvoll und blutig, doch Hillevi holt das Kind mit der Zange. Wenig später wird es ertränkt, da es wegen der Beulen am Kopf als entstellt gilt. Was für ein Kontrast zwischen dem schonungslosen Realismus der Geburtsszene und der kalten, abstrakten Schönheit der Natur!

Hillevis Berufsanfang steht unter keinem guten Stern, denn als ihr Verlobter Edvard nachkommt, verleugnet er sie in der Öffentlichkeit, und auch als Liebhaber kann er nicht überzeugen: ‘Nachdem er unter dem Mieder ihres Kleides das Hemd mit der Spitzenkante freigelegt und sich zu einer Brust vorgetastet hatte, wimmerte er, als hätte er sich wehgetan. Es wurde auch an diesem Abend nichts.’  Der wortkarge Kutscher Trond ist zwar die zweite Wahl, erweist sich aber als einfühlsamer Liebhaber und zuverlässiger Lebensbegleiter. Mit ihrer Heirat beginnt eine weitverzweigte Familiensaga, die Ekman aus mehreren Perspektiven erzählt, und die in diesem ersten Band der Wolfspelz-Trilogie zeitlich bis zur Machtergreifung der Nazis in Deutschland reicht. Was als wortmächtige Naturbeschwörung beginnt, zerspringt nach einer Weile ein Spiegel und scheint sich aufzulösen in unterschiedliche Perspektiven. Dann sprechen Hillevis Kinder, oder man folgt dem Jungen Elis, der (siehe oben) das Neugeborene ertränkt, von seiner Familie flieht, als Waldmensch lebt, an Tuberkulose erkrankt, im Sanatorium Künstler wird und schließlich nach Berlin geht, doch immer findet sie zurück zum Zentrum des geradezu archaisch anmutenden Mikrokosmos der Jämtländer, wo man an Erdgeister und Zeichen glaubt, wo die überlieferten Geschichten Generationen überdauern und die Lappen wie eh und je mit ihren Rentierherden ziehen. Ekman schildert diese Welt mit ihren Mythen, Gebräuchen und Gerätschaften, ihrer Grausamkeit und Schönheit detailversessen und mit höchster Eindringlichkeit, als wäre sie dabei gewesen. 

Das reicht bis in die Sprache. Die Jämtländer  sprechen einen Dialekt, der auch für Hillevi manchmal schwer verständlich ist.  Da ich selbst als Übersetzer tätig bin, verzichte ich normalerweise darauf, Kollegen zu loben oder zu kritisieren, doch hier sei eine Ausnahme gemacht. Die Kunstsprache, welche die Übersetzerin Hedwig M. Binder erfunden hat, ist drastisch, nuancenreich, poetisch: ‘Das Fräulein sitzet im Gedacht.’ Nicht nur deshalb sei dieses wunderbare Buch zur Lektüre wärmstens empfohlen.

Am schwarzen Wasser: Roman : Ekman, Kerstin, Binder, Hedwig: Amazon.de:  Bücher

Kerstin Ekman
Am schwarzen Wasser

aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder

Piper Verlag 2000

Kerstin Ekman bei Amazon

In eigener Sache – Neuer Roman Black Box

Mein neunter Roman Black Box ist erschienen. Er basiert auf zwei Kurzgeschichten, die in der Zeitschrift Nova erschienen sind. Ich war fasziniert von den ‚Aktenkoffern‘, den mit menschlichem Bewusstsein ausgestatteten Explorationsbots, die ausgesandt wurden, um potenziell bewohnbare Planeten im interstellaren Raum zu erkunden. Irgendwann fragte ich mich, was wohl passieren würde, wenn eines dieser Bewusstseine irgendwann zur Erde zurückkehren würde – als leiblicher Mensch. Aus dieser Frage entstand der Roman, und darum geht es:
Um 2050 herum kulminieren die Umweltprobleme, Untergangsstimmung macht sich breit. Das Projekt Last Resort soll der Menschheit langfristig eine Zukunftsperspektive eröffnen. Dutzende interstellare Raumschiffe starten zu verschiedenen potenziell habitablen Planeten in relativer Black Box IlluErdnähe, ‚bemannt‘ mit Explorationsbots, den so genannten Aktenkoffern. Jeder Bot trägt die Bewusstseinssimulation einer realen Person in sich, die auf der Erde zurückgeblieben ist. Eines dieser Bewusstseine ist das von John Nowak, doch bei der Ankunft des Raumschiffs im Orbit des Zielsystems Imago kommt es zu einem unvorhergesehenen Vorkommnis.
Hundertdreißig Jahre später taucht im Erdorbit ein kleines Raumschiff auf, an Bord John Nowak, wie er leibte und lebte. Er wird zur Erde gebracht und in einem amerikanischen Militärkrankenhaus verhört. Wie sich herausstellt, enden seine Erinnerung mit dem Zwischenfall im Orbit des Zielplaneten. Wie seine menschliche Gestalt wiederhergestellt und die Bewusstseinssimulation des Aktenkoffers auf ihn übertragen wurde, kann er nicht sagen.
Ist er ein Schwindler, ein Monster oder ein Gott, wie manche seiner Bewunderer behaupten? John wird zum Spielball unterschiedlicher Interessen, bis es ihm gelingt, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen, und er beginnen kann, das Rätsel seiner Existenz zu lösen.

Black BoxNorbert Stöbe
Black Box

Roman, p.machinery, 2023

Leseprobe

Paperback
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Jonathan Franzen – Crossroads

Nehme ich mir das neue Buch eines von mir geschätzten Autors vor, mache ich, um die Spannung zu wahren, einen Bogen um Rezensionen und gönne dem Umschlagtext höchstens mal einen halben Blick. Beim Titel Crossroads dachte ich an den gleichnamigen Song der legendären Gruppe The Cream, und das sonnenwarme Cover mit dem Gitarrenspieler und der innig lauschenden jungen Frau evozierte Woodstock-Bilder. Folglich erwartete ich von dem 826-Seiten-Wälzer ein Epos über die Hippiegeneration. Damit lag ich daneben, aber vielleicht nicht ganz so weit, wie es zunächst den Anschein hatte.

Crossroads spielt 1971/72 im fiktiven New Prospect, einem Vorort von Chicago. Im Mittelpunkt steht die Pfarrersfamilie der Hildebrandts. Russ und Marion haben vier Kinder:  Clem, Becky, Perry und Judson. Mit Ausnahme  des noch jungen Judson stehen alle an einer Wegkreuzung ihres Lebens. Entscheidungen müssen getroffen werden, Pläne werden geschmiedet und zerplatzen, Lebenswege verändern sich. Russ, der erste Gemeindepfarrer, ist neidisch auf Rick, den jüngeren zweiten Pfarrer und Gründer der namensgebenden Jugendgruppe Crossroads. Der charismatische Rick kommt gut an bei den Jugendlichen. Der hemdsärmligere Rick fühlt sich ausgeschlossen und zurückgesetzt, und auch seine Ehe läuft nicht mehr rund. Er hat das sexuelle Interesse an der pummelig gewordenen Marion verloren, stattdessen reizt ihn das jüngere Gemeindemitglied Frances, die mit ihrer unkonventionellen Art ein alternatives Lebensmodell für ihn verkörpert. Clem, sein ältester Sohn, hadert unterdessen mit seiner Zurückstellung vom Wehrdienst. Die vermeintliche moralische Schuld gegenüber seinen in Vietnam dienenden Altersgenossen glaubt er dadurch begleichen zu müssen, dass er mit seiner Freundin Schluss macht, das Studium abbricht und sich freiwillig zur Musterung meldet. Becky, seine jüngere Schwester, verliebt sich in den Musiker Tanner und spannt ihn dessen Freundin und Bandkollegin aus, während Perry, ihr begabter, aber schwieriger Bruder, sich mit Drogen einlässt. Diesen fünf Hildebrandts folgt Franzen mit wechselnder Perspektive. Kein Umweg ist ihm zu lang und kein Detail zu nichtig, um ihre Dilemmata auszuleuchten und in kunstvoll eingewobenen Rückblenden ihre Lebensgeschichte zu inszenieren. Dass keine Langeweile aufkommt, verdankt sich einerseits dem unglaublich nuancenreichen psychologischen  Erzählstil Franzens, der bisweilen an hyperrealistische Gemälde denken lässt, bei denen man mit der Lupe quasi jedes längs- und querliegende Härchen einzeln studieren kann, andererseits  seiner Fähigkeit, die überbordende Detailfülle mit großen Bögen zusammenzuhalten.

Und dann ist da noch die Sache mit Gott. Es ist kein Zufall, dass die beiden Teile des Buches mit Advent und Ostern überschrieben sind. Schließlich geht es um eine Pfarrersfamilie, und da verwundert es nicht, dass auch Themen wie Religion und Glauben behandelt werden. Schubkastenreligiosität ist dabei weder Franzens noch Russ’ Sache. Russ ist schließlich froh, der engen Welt der Mennoniten entkommen zu sein, in die er hineingeboren wurde, und mit zu den stärksten Passagen des Buches gehört  seine in der Rückschau erzählte spirituelle Naturerfahrung in der Hochebene eines Navajo-Reservats. Doch die Häufung von Glaubenskrisen, Bekehrungen, Gotteserfahrungen bis zur Gottesidentifikation und nicht zuletzt der engelsgläubige Autofahrer, der zum Ende den nach Hause trampenden Clem mitnimmt (der einzige Agnostiker der Familie) befremden den eher religionsfernen Leser. Auch wenn der Roman mit einem Hauch Ernüchterung endet und die eine oder andere Bekehrung in Frömmelei zu münden scheint und damit quasi ‘entschärft’ wird, stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die Themen Religion und Glaube in der geplanten Trilogie einnehmen werden, die mit dem vorliegenden Roman eröffnet wird. Drei Generationen soll das Gesamtwerk umfassen, und es würde nicht überraschen, wenn sich herausstellen sollte, dass der erste Band bereits mit Blick auf das Erstarken der Evangelikalen konzipiert wurde, die in den USA eine unheilige Allianz mit dem reaktionären Populismus eingegangen sind.

Und was ist mit Woodstock? Ein schwaches Echo davon findet sich bei den Jugendlichen, die in der Crossroads-Gruppe tanzen, singen, meditieren und einander mit harmlosen Psychospielen näherkommen, und das ist eigentlich eine ganz sympathische Reminiszenz an das kurze drogenselige Hippie-Delirium.

Crossroads

Jonathan Franzen
Crossroads

Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell

Rowohlt 2021

Jonathan Franzen bei Amazon