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Hilary Mantel – Brüder

Mantels 1100-Seiten-Roman Brüder  (A Place of Greater Safety),  bereits in den Siebzigerjahren begonnen und erst 1992 auf Englisch und auf Deutsch erschienen, erzählt die Geschichte der Französischen Revolution. Nun ist es ja so eine Sache mit historischen Romanen: Sie malen die bisweilen trockene Wahrheit der Geschichtsbücher in lebendigen Farben und nachempfundenen Szenen aus, die man, wenn das Unternehmen glückt, für die Wirklichkeit nimmt. Dass sich dabei Ausgedachtes mit Belegtem mischt, geht da bisweilen unter. Dieses Dilemmas ist sich auch die Autorin wohl bewusst und spricht es im Vorwort deutlich an – um es gleich darauf mit ihrer Erzählkunst vergessen zu machen.

Drei Personen stehen im Zentrum des Romans; Camille Desmoulins, Georges Danton und Maximilien de Robespierre. Sie sind die drei titelgebenden Brüder im Geiste. Alle drei stammen aus der Provinz, absolvieren eine Anwaltsausbildung und nehmen in der Revolution eine herausragende Stellung ein.

Demoulins, ein stotternder, aufmüpfiger Junge mit herausragender Intelligenz, wird von den Eltern auf ein Pariser Internat geschickt, wo er sich mit Robespierre anfreundet und durch die Literatur der Aufklärung (Rousseau) in seiner monarchiekritischen Haltung bestärkt wird. Später wird er zum scharfzüngigen Herausgeber von Zeitungen und Autor aufrührerischer Pamphlete.  Er ist es, der die hungernde, zornige Menge 1789 zum Sturm auf die Bastille anfeuert. Zusammen mit Danton und Robespierre leitet er den Tuileriensturm und das Septembermassaker von 1792 in die Wege, dem mehr als tausend angebliche Royalisten und Verschwörer zum Opfer fallen. Der auch heute wieder besonders in rechten Kreisen beliebte Volkswille, Rousseaus  naive Fiktion einer einheitlichen Gemeinschaft, die alle gesellschaftlichen Widersprüche in sich auflöst, zeigt hier erstmals seine blutige Fratze. Die drei Brüder stehen hier noch eng beisammen; Camille, der wilde Theoretiker und Schreiber; Danton, der Mann, der die umstürzenden Verhältnisse auch als Gelegenheit ansieht, sich zu bereichern und seiner Lebenslust zu frönen; und der anfangs so rechtschaffene, idealistische Robespierre, der mit seinem Wohlfahrtsausschuss zum Inquisitor mutiert. Der Terror wird zu Staatspolitik erhoben, die Revolution frisst ihre Kinder. Es entwickelt sich eine Eigendynamik, die aus Antreibern Getriebene macht und alle Ideale, auch das hehre Revolutionsmotto Liberté, Égalité, Fraternité, in ihr Gegenteil verkehrt. Jeder beargwöhnt jeden, Verschwörungen werden aufgedeckt und erfunden, mit demagogischen Reden vor dem Volkskonvent suchen die Fraktionen Unterstützer, um den Gegner zu eliminieren, und das heißt, ihn der Guillotine zu überantworten. Camille bekommt kalte Füße und versucht zusammen mit Danton den Terror zu beenden, doch da ist es bereits zu spät. Die Institutionen sind zerschlagen, Recht und Gesetz zur Farce geworden. Das Biest der Revolution duldet keinen Reiter mehr.

Mantel zeichnet diese Entwicklung bis zum Jahr 1794 als vielstimmiges Wimmelbild, mit ausgedehnten, nuancenreichen Dialogen voller Witz, die zeitverbunden wirken, aber niemals historisierend, sondern quicklebendig. Der Fokus liegt auf der Lebenswirklichkeit der großen und kleinen Protagonisten. Lucile, Camilles scharfsichtige Ehefrau, kommentiert Ehe, Politik und Revolutionsmode, der Henker beklagt sich über seine Arbeitsbelastung, Marie Antoinette sieht im Kerker der Hinrichtung entgegen, de Sade räsoniert über wahrgewordene Blutfantasien, Camilles Vater schämt sich für seinen missratenen Sohn, die Politiker intrigieren, was das Zeug hält. Wie das Brechtsche epische Theater bricht Mantel immer wieder den Erzählstrom, lässt Zitate aus Dokumenten, Zeitungen und Reden einfließen, macht Anmerkungen zu Brotpreis und Tagelöhnersold, als wollte sie den Leser daran erinnern, dass alles Fleisch auf dem Gerippe der Fakten Fiktion ist.

Bei all den politischen Gruppierungen, den Hébertisten, Sansculotten, Cordeliers, Girondisten und so weiter kann man schon mal den Überblick verlieren und wünscht sich, die großen Linien , so es sie denn gibt, träten deutlicher hervor, die erste ausgearbeitete Verfassung würde stärker gewürdigt und Frankreichs Krieg mit den Kontinentalmächten ein wenig ausführlicher geschildert, doch das ist Erbsenpickerei. Mantels Roman Brüder  ist eine faszinierende Lektüre mit historischem Erkenntniszugewinn und macht mächtig Lust auf ihre vielgerühmte Chromwell-Trilogie.

Hilary Mantel
Brüder (A Place of Greater Safety)

Aus dem Englischen von Kathrin Rhazum und Sabine Roth

Dumont 2012

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